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Wirtschaftshistorischer Kongress
Blick auf Krisenzeiten

In Münster kamen Sozial- und Wirtschaftshistoriker zum ersten Deutschen Kongress für Wirtschaftsgeschichte zusammen. Vier Tage lang tauschten sich rund 80 Wissenschaftler aus dem In- und europäischen Ausland über ihre Forschungen aus. Das Kernthema der Tagung: "Ordnung und Chaos - Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte". Ein Thema, das - mit Blick auf die jüngsten Debatten zur Finanzkrise - an Aktualität nichts verloren hat.

Von Hedwig Lechtenberg | 19.03.2015
    "Der Hintergrund der Tagung ist der, dass zunehmend Vorträge zur deutschen Wirtschaftsgeschichte gehalten werden an ausländischen internationalen Tagungen. Und ein wichtiges Anliegen ist, einen Teil, der zur deutschen Wirtschaftsgeschichte forscht, zurückzuholen nach Deutschland. Es ist so, dass internationale Tagungen auf europäischem Niveau eine große Bedeutung haben, eben zunehmend auch für die historische Fachöffentlichkeit."
    Ziel sei es vor allem, den interdisziplinären Austausch zu fördern. So befinden sich unter den Teilnehmern nicht nur Wirtschafts- und Sozialhistoriker, sondern auch zahlreiche Volkswirtschaftler. Dem Kernthema der Tagung - Ordnung und Chaos - entsprechend, werfen die einen ihren geschichtlichen, die anderen den ökonomischen Blick auf krisenhafte Zeit-Epochen.
    Günther Schulz, Vorsitzender der Gesellschaft für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bonn, hat die Tagung mitorganisiert: "Wir wollen eben auch der Öffentlichkeit vermitteln, dass die Kombination von spezifisch ökonomischen und spezifisch historischen Ansätzen produktiv, weiterführend ist. Aber wir wollen das auch unseren Universitäten zeigen. Wir haben innerhalb der Fakultäten eine Eigenlogik. So wird etwa in den ökonomischen Fakultäten die Betriebswirtschaftslehre besonders gefördert und die Randgebiete haben damit zu kämpfen, also zum Beispiel die Wirtschaftsgeschichte. Wirtschaftsgeschichte ist weniger tagesaktuell, sondern vermittelt Grundkenntnisse über die Zeit hinweg, die für den Tag auch wichtig sind, aber nicht eins zu eins umgesetzt werden können in Zinshöhe oder die Frage, welche Maßnahme von eins bis sieben für Griechenland jetzt die richtige ist."
    Wirtschaftsgeschichte ist ein durchaus merkwürdiger Begriff, meint Nikolaus Wolf, Historiker und Volkswirtschaftler an der Humboldt-Universität Berlin. Wirtschaft befasse sich mit dem rationalen Umgang von knappen Ressourcen, Geschichte dagegen mit der Frage, an was sich Menschen erinnern und wie sie mit Erlebtem umgehen.
    "Es geht darum, sich mit dieser Spannung zu befassen. Also gute Wirtschaftsgeschichte ist, glaube ich, immer der Versuch, beides wirklich ernst zu nehmen. Sowohl die ökonomische Logik, die möglicherweise in Dingen drin steckt, die man erst mal verstehen muss, als auch den historischen Kontext, in denen Dinge tatsächlich stattfinden, auch die Akteure, wer gehandelt hat. Beispielsweise in der Weltwirtschaftskrise, sich tatsächlich anschauen, wer waren denn damals eigentlich die handelnden Personen, die Zentralbankpräsidenten in den USA und in England und in Deutschland, ich spreche von den 30er-Jahren, auf die wir immer wieder auch jetzt zurückkommen, als ein Beispiel für eine Krise, die man nicht verstanden hat, die man deswegen auch ganz lange nicht in den Griff bekommen hat." Und die in Deutschland zum Aufstieg der Nationalsozialisten führte.
    Lehrreicher Blick auf die Geschichte
    Auslöser der Weltwirtschaftskrise war der amerikanische Börsencrash 1929. Auch in Europa brachen die Aktienmärkte zusammen. Die Deutschen traf es damals besonders hart. Denn sie hatten zusätzlich noch die hohen Reparationszahlungen nach dem verlorenen 1.Weltkrieg zu leisten. Um gegenzusteuern, verordnete der letzte Kanzler der Weimarer Republik, Heinrich Brüning, eine drastische Sparpolitik. Diese sei der heutigen Anpassungs- und Austeritätspolitik in Griechenland zum Verwechseln ähnlich, stellt Albrecht Ritchl, Wirtschaftshistoriker an der London School of Economics in seinem Gastvortrag zu Schuldenkrisen in der deutschen Fiskalgeschichte fest.
    "Diese Politik wurde gemacht auf Betreiben und auf Druck der Auslandsgläubiger, genau wie heutzutage. Und sie führte auch zu ganz ähnlichen Ergebnissen, nämlich ein Kollaps in der Wirtschaftsleistung von ungefähr 25 Prozent und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf deutlich über 20 Prozent. Also ganz ähnliche wirtschaftliche Wirkungen und in einer ganz ähnlichen wirtschaftlichen Situation, nur mit vertauschten Rollen. Damals war Deutschland Schuldnerland und wurde in die Deflationspolitik gedrängt. Heute ist Deutschland Gläubigerland und hat die Griechen in eine Deflationspolitik gedrängt, als hätte es die deutsche Krise und die traumatische Erfahrung nie gegeben."
    Der Wirtschaftshistoriker mahnt an, die Deutschen sollten sich an die so genannten Schuldenschnitte nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern: an die Währungsreform von 1948 und an das Londoner Schuldenabkommen fünf Jahre später.
    "Es ist außerhalb Deutschlands viel mehr bekannt als in Deutschland, in welch starkem Maße Nachkriegsdeutschland von seinen Altschulden entlastet worden ist, und das Wirtschaftswunder, das wir in den Fünfziger- und Sechziger-Jahren erlebt haben, eben nicht nur eine Folge des deutschen Fleißes ist und einer guten Wirtschaftspolitik, – das auch alles, niemand stellt das in Abrede – aber eben auch einer ungeheuren Großzügigkeit, mit der die Auslandsgläubiger, unter starkem Druck der Amerikaner, auf ihre Forderungen verzichtet haben, beziehungsweise sie in die Zukunft zurückgestellt haben, damit Deutschland wieder auf die Füße kommt."
    Der Wirtschaftshistoriker hält es für illusorisch, dass Griechenland seine Schulden jemals alleine abtragen kann: "Wir werden vermutlich in den Geschichtsbüchern sehr kritisch beurteilt werden für unsere doch recht starre Haltung in der europäischen Schuldenkrise."