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Wirtschaftskrise damals und heute

Bertold Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" hat Hochkonjunktur auf deutschen Bühnen, die jüngste Inszenierung hatte am Deutschen Theater Berlin Premiere. Der Klassiker entstand zur Weltwirtschaftskrise von 1929.

Von Eberhard Spreng | 17.12.2009
    Drei Herren in weißen Anzügen und eine junge Dame in weißem Glitzerkleid mit Pelzjäckchen lümmeln sich auf der Vorderbühne. Sie haben Reclam-Heftchen in der Hand und lesen sich einigermaßen amüsiert Bruchstücke vom Anfang aus Brecht "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" vor. Mal ist der eine der Fleischhändler Pierpont Mauler, mal ein anderer. Gleich zu Beginn gibt uns Nicolas Stemann zu verstehen, dass wir jetzt nicht das Stück zur Krise bekommen werden, das sein Theater jetzt nicht mit dem brechtschen Zeigefinger mahnen wird, und dass der Versuch obsolet ist, einen Klassenstandpunkt darstellen, oder in eine Figur zu schlüpfen, mit der man eine politische Beweisführung bewerkstelligen kann.

    Drei Stunden lang wird Johanna ein entindividualisiertes Mauler-Cridle-Snyder-Konglomerat vor sich haben und das brechtsche Vorhaben, wie im "Dickicht der Städte" einen Zweikampf der Protagonisten vorzuführen, werden wir nicht erleben. Statt dessen ist eine immerwährende ironische Brechung zu sehen, nimmt Stemann jede Handlung, die die Geschichte vorantreiben könnte, wieder persiflierend zurück. Kaum ist eine Szene skizziert, zieht sich eine ihrer Figuren wieder aus dem Spiel auf die Metaebene zurück. Ist das die marxsche Charaktermaske der ökonomischen Rolle, die hier gezeigt wird? Nein, es ist der Stemannsche Regiebaukasten der immerwährenden Migration der Zeichen von einer Darstellungsebene zur nächsten. Auf einer Projektionsleinwand erschienen Bilder einer Stadtlandschaft mit Bankhochhäusern, dann wird die Kamera enttarnt, die sie aufgenommen hat und die Frau, die mit ihr arbeitet. So wie Brecht einst Schillers "Jungfrau von Orleans" karikierte, karikiert nun Stemann Brecht. Geradezu ärgerlich in einer Inszenierung, die immerfort postmodern dekomponiert nachweisen will, dass das Theater nur noch die Trümmerstücke seiner einstmaligen Erzählmittel vorführen kann, ist die Einblendung einer Zahl, die vom realen Elend der Welt da draußen künden soll: 923 Menschen seien seit Beginn der Aufführung an Hunger gestorben und alle drei Sekunden rückt die Ziffer unaufhaltsam vor. Hat sich im ironischen Verwirrspiel jetzt ein ernst gemeintes Entrüstungssymbol eingeschlichen oder ist diese Zahl auch nur ein weiterer Witz im Zeichensystem. Schwer erträglich auch ist der etwas klebrige Realismus, mit der die von Margit Bendokat verkörperte Elendswitwe Luckerniddle mit Lidl- und Obi-Tüte über die Bühne schlurfen und ihr schäbiges Kantinenessen auf ihre in den Tüten verstauten Habseligkeiten kotzen muss. Als Einziger ihr gesteht Stemann eine geradlinige Figurenentwicklung zu, von der Frau, die aus Hunger ihren verunglückten Mann verrät, zur revolutionären Figur, die ein abschließendes Maschinengewehrfeuer niederstreckt. Johanna hingegen, die mit ihrem Holzkreuz um sich haut, bis es zerbricht und sich dann politisch geläutert und sittlich aufgeklärt zu den frierenden arbeitslosen Arbeitern setzt, sie muss ganz am Ende wieder ihr Glitzerkleidchen anlegen und damit den Beweis ihrer verlogenen Theaterhaftigkeit. Diesen beiden Frauen, der hässlichen Alten und dem schicken etwas chamäleonartigen Betroffenheitsmädel mit der medienwirksamen Entrüstungspose, die Katharina Marie Schubert mit ungehemmtem Elan spielt, gibt Stemann szenisches Profil. Der männliche Rest ist monetärer Opportunismus, aus dem lediglich Matthias Neukirch als letztlich scheiternder Mauler etwas herausragt.

    Auch ein Chor hat in der Zwischenzeit die Bühne bevölkert, Theatermusiker haben das Geschehen musikalisch begleitet, die Drehbühne hat Scheinwerfer um die Akteure kreisen lassen, attraktiv herunterrieselnder Theaterschnee hat Kälte signalisiert. Am Ende hat Stemanns Regiezeichenbausatz sein Pulver verschossen, ist auch die Ironie müde geworden und hat einem melancholischen Pathos Platz gemacht. Aber all das ist einem Stück gegenüber äußerlich geblieben, das sich nur bei oberflächlicher Betrachtung eignet, um mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 von der heutigen Krise zu erzählen.