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Wirtschaftswissenschaftler Kirchhof fordert konsequente Lehren aus der Finanzkrise

Professor Paul Kirchhof, Direktor des steuerrechtlichen Instituts der Universität Heidelberg, hat eine Erweiterung und Präzisierung der Haftungstatbestände gefordert. Unternehmen müssten Hilfe bei unverschuldeter Not beanspruchen können. Gleichzeitig müssten sie wiederum nach einer Sanierung dem Staat unter die Arme greifen.

Paul Kirchhof im Gespräch mit Jürgen Liminski | 23.02.2009
    Jürgen Liminski: Die berühmteste Metapher von Adam Smith, dem Vater der Wirtschaftswissenschaft, ist die unsichtbare Hand, die das Marktgeschehen lenke zum Wohl und Wohlstand aller. Diese Hand hat sich vergriffen, viele Manager- und Banker-Hände haben nicht zum Wohl aller, sondern für Boni Einzelner gearbeitet, sodass heute über die Zukunft des Systems und der Belastbarkeit des Steuerzahlers insgesamt diskutiert wird, und zwar auf hohem Niveau. Auch wir wollen jetzt darüber sprechen, und zwar mit Professor Paul Kirchhof, ehemals Verfassungsrichter, heute Direktor des steuerrechtlichen Instituts der Universität Heidelberg und Autor eines halben Dutzend Bücher über Freiheit, Geld, Steuern und soziale Marktwirtschaft. Guten Morgen, Herr Kirchhof!

    Paul Kirchhof: Schönen guten Morgen!

    Liminski: Herr Kirchhof, die aktuellste Frage zuerst: Muss der Staat, also der Steuerzahler, Opel retten?

    Kirchhof: Zunächst einmal, der Steuerzahler hat den Staat zu finanzieren, der Steuerzahler steht dafür ein, dass der Staat seine Aufgaben erfüllen kann. Und grundsätzlich garantiert der Staat nicht die Existenz von Unternehmen. Was die Arbeitsplätze angeht, da ist der Staat sicherlich in einer Rahmenverantwortung, aber er wird die Frage beantworten müssen, ob man die vorhandenen Unternehmen, wenn sie denn wirtschaftlich nicht erfolgreich sind, stützen soll oder ob man stattdessen andere Erfolg versprechendere Initiativen anregen soll.

    Liminski: Wann muss denn der Staat eingreifen? Ist das eine Frage der Zahl der Arbeitsplätze, also der Größe des Unternehmens? Wann kann, wann soll die Regierung eine Bank oder einen Konzern pleite gehen lassen?

    Kirchhof: Es kann sicherlich nicht die Regel sein oder die Regel werden, dass mittelständische Unternehmen, wenn sie erfolglos sind, in die Insolvenz fallen, während Großunternehmen, wenn sie insolvent zu werden drohen, auf den Staatshaushalt zugreifen. Es ist keine Frage der Größe, sondern es ist eine Frage der Struktur. Ich glaube, die Kernfrage, vor der wir gegenwärtig stehen, im Bewusstsein, dass der Staat natürlich sich dieser Krise widmen muss, ist die: Prinzipiell erwarten wir vom Staat gutes Recht und nicht gutes Geld. Denn der finanzielle Schutzschirm für ein Unternehmen bedingt einen Schutzschirm für den Steuerzahler. Denn der Steuerzahler ist letztlich derjenige, der an diesem Unternehmen, seinem Erfolg und Misserfolg nicht mitgewirkt hat, jetzt gleichsam in eine Haftung eintreten soll für etwas, was er nicht zu verantworten hat.

    Liminski: Wir sind in diese missliche Situation in der Tat geraten, weil einige Banker und Manager versagt haben. Ist es nun systemwidrig, wenn man deren Boni und Bezüge einschränkt und begrenzt. Ist das jenseits von Neid eine Frage der Verantwortung, auch der ethischen Selbstreinigung?

    Kirchhof: Es ist in der Tat eine Frage der Verantwortung, und zwar der rechtlichen und der ethischen. Auch im Wettbewerb gilt, dass die Freiheit, die Unternehmerfreiheit immer als Freiheitsrecht ausgeübt wird, also als begrenzte, definierte Freiheit. Und das Grundprinzip lautet: Wirtschaftliche Freiheit gibt dem Einzelnen die Chance für den Erfolg, aber auch die Haftung für den Misserfolg. Und wir haben gegenwärtig das Problem, dass sich die persönliche Verantwortung, aber auch die Verantwortung der Unternehmen für grobe Fehlleistungen – also wenn in Spiel und Wette sich herausgestellt hat, dass eine Blase entstanden ist, die jetzt platzt, dass dann die Akteure, die dieses System vollständig durchschauen, dafür weder als Unternehmen noch als Person Verantwortung tragen, das heißt haften müssen. Ich würde also sagen, es geht nicht nur um die Frage, ob ich Boni auszahlen kann, wenn ich es schlecht gemacht habe, das widerspricht sich ja schon logisch, sondern es geht darüber hinaus um die Frage, dass wir die Haftungstatbestände deutlicher erweitern und präzisieren müssen, dass jeder weiß, ich bin verantwortlich für das, was ich tue. Es wird in Finanzkreisen gegenwärtig das Modell des Kapitäns diskutiert, der als Letzter das sinkende Schiff verlässt. Weil das so ist, weil der Kapitän, wenn er das Schiff in den Untergang steuert, persönlich sehr viel riskiert, fährt er sehr behutsam durch die Weltenmeere. Und dieses Prinzip brauchen wir auch für den Finanzmarkt.

    Liminski: Das heißt, es ist eine Frage von Personen, weniger des Systems?

    Kirchhof: Es ist eine Frage der rechtlichen Zuweisung von Verantwortlichkeiten und dann natürlich auch der ethischen Wahrnehmung von Verantwortlichkeiten. In dem großen Aufbruch zur Freiheit, dem Beginn der Neuzeit, hat man die Freiheit immer gedacht als eine Handlungsweise, die verallgemeinerungsfähig ist. Das heißt, ob Sie da den kategorischen Imperativ von Kant nehmen oder die unsichtbare Hand von Adam Smith, es geht immer um die Idee, dass derjenige, der verantwortlich handelt mit Wirkung für andere, dass der Handlungsmaßstäbe braucht, die vor den anderen bestehen können.

    Liminski: Das kann aber auch bedeuten, Herr Kirchhof, dass jemand, der schuldlos in der Krise insolvent wird, dass diesem Mann geholfen wird, weil er eben schuldlos ist?

    Kirchhof: Natürlich. Also einerseits Haftung für Fehlleistungen, andererseits ein Hilfsanspruch für unverschuldete Not. Das korrespondiert. Und selbstverständlich – ich will das noch mal sehr betonen – ist der Staat hier gefordert, und zwar nicht nur der einzelne Staat, der Markt ist global, also müssen die Maßstäbe global sein, also müssen die Staaten – fast hätte ich gesagt die Vereinten Nationen – sich zusammensetzen, um dieser Anonymität, dieser Intransparenz – viele Verantwortlichkeiten entweichen ja in die Unsichtbarkeit eines globalen Marktes – ein Ende zu bereiten und dort Verantwortungstatbestände einzuführen.

    Liminski: Sehen Sie die Gefahr, dass durch Verstaatlichung oder selbst nur Teilverstaatlichung unser System dieser persönlichen Verantwortung, also auch die freie und soziale Marktwirtschaft, sich selbst aushöhlt?

    Kirchhof: Also selbstverständlich gilt die Regel, das Unternehmertum, also die Verfügungsgewalt über Kapital und Arbeit, bleibt in privater Hand. Deswegen haben wir die Garantie des privatnützigen Eigentums und die Berufsfreiheit. Aber wenn der Staat, und das heißt das Geld des Steuerzahlers, zur Hilfe eingesetzt wird, dann muss der Staat auch garantieren, dass dann, wenn die Hilfe erfolgreich war, das Unternehmen also saniert ist, dass dann der Unternehmenserfolg für eine begrenzte Zeit – zwei, drei, vier Jahre – auch dem Steuerzahler zugute kommt. Also wenn schon das Unternehmen die Allgemeinheit in Anspruch nimmt, um sich aus seiner Krise zu führen, dann muss dieses Unternehmen, wenn es saniert ist, auch mithelfen, dass der Staat, der ja auch in einer Finanzkrise ist mit 1,5 Billionen Schulden, dann seinerseits der Sanierung nähergeführt wird. Aber wir dürfen die Aufmerksamkeit nicht nur auf den Fokus richten, dass die Regel gilt, der Staat ist kein Unternehmer, sondern wir müssen die Aufmerksamkeit auch auf den Tatbestand richten, dass der Staat kein Financier von wirtschaftlicher Schwäche privater Unternehmen ist.

    Liminski: Wenn nun die Allgemeinheit der Steuerzahler für Fehlverhalten eintritt, sei es auch nur befristet, kann dann ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland sich nicht auch übernehmen, sodass sich die Systemfrage stellt?

    Kirchhof: Durchaus, und das ist natürlich eine aktuelle Frage. Wir haben bisher immer gesagt, ein Staat kann nicht insolvent werden, und zwar deshalb, weil dahinter immer die Kraft seiner Bürger, seiner Steuerzahler steht. Jetzt gibt es im Recht die ersten Erwägungen, ob man nicht die Rechtsstrukturen ändern müsse, dass auch ein Staat insolvent oder teilinsolvent werden kann. Das ist natürlich sozusagen ein Warnsignal, dass die Staaten alles tun müssen, dass sie in der Verfügungsgewalt über ihre heutige Steuerkraft, aber noch mehr in der Verfügungsgewalt über die zukünftige Steuergewalt, sprich Staatsverschuldung, so behutsam vorgehen, dass sich diese Frage nicht stellt. Einmal für den einzelnen Staat, aber auch für einen Staat in einem Staatenverbund wie die Europäische Union.

    Liminski: Wir sind in einer globalen Krise, das ist allgemein bekannt. Müssen da die Steuersysteme in Europa stärker harmonisiert oder einander angeglichen werden, geht das überhaupt, kann man das Bankgeheimnis in diesem Sinn oder in diesem Zug aufheben? Zerstört man da nicht definitiv Vertrauen?

    Kirchhof: Also das Bankgeheimnis ist ja kein verfassungsrechtliches Prinzip, sondern es ist ein gesetzlich eingeführtes Prinzip, das die wechselseitige Vertrauensbeziehung zwischen der beratenden Bank und dem Rat suchenden Kunden schützt, auch selbstverständlich ein Schutzschirm des Geheimnisses über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Kunden sichert.

    Aber wenn der Staat Steuern fordert, etwa aus Kapitalerträgen, dann muss er selbstverständlich diese Steuerforderung auch kontrollieren können. Kein Mensch zahlt gerne Steuern. Die Einkommensteuern werden erhoben aufgrund der persönlichen Erklärung des Steuerpflichtigen, also seines eigenen Wissens. Und dann brauche ich natürlich, wenn das die Besteuerungsgrundlage ist, eine starke staatliche Kontrolle. Und deswegen ist das Steuerrecht fehlerhaft, wenn wir ein Gegenprinzip, das Bankgeheimnis hätten, das eine seriöse Kontrolle der Realität der Steuerforderungen verhindert. Das wäre die organisierte steuerliche Ungleichheit. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1991 im damaligen Zinsurteil beanstandet. Wenn ich die Steuer auf die Erklärung, die Deklaration der Steuerpflichtigen stütze, muss der Staat kontrollieren, verifizieren können, sonst haben wir einen Systemfehler.

    Liminski: Die Krise stellt die Systemfrage. Das waren Antworten von Professor Paul Kirchhof, Direktor des Instituts für Steuer- und Finanzrecht der Universität Heidelberg. Besten Dank für das Gespräch, Herr Professor Kirchhof!

    Kirchhof: Gerne.