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Wirtshausarchäologie
Ausgrabung in der Dorfschenke

Die Archäologie entdeckt ein neues Forschungsthema: das Wirtshaus. Als Brennpunkte des sozialen Lebens wurden Gasthäuser und Schenken bisher sträflich vernachlässigt. Zwischen Flaschenscherben und Kleingeld finden sich dort wichtige Zeitdokumente - und manchmal sogar Leichen.

Von Andrea Ring | 04.01.2018
    Erker mit der Aufschrift "Wein Weib Gesang" mit zugehörigen Holzplastiken in der Drosselgasse in der Weinstadt Rüdesheim auf der rechten Seite des Rhein im Bundesland Hessen, aufgenommen am 16.08.2017.
    Schlachtplatte statt Schlachtfeld: Die Wirtshausarchäologie erlaubt einen Blick zurück ins ganz gewöhnliche Leben der Menschen (dpa / Rainer Oettel)
    Ein schöner Moment für den Archäologen war der Fund im niedersächsischen Harsefeld, schmunzelt Dr. Donat Wehner von der Universität Kiel:
    "Als wir entdeckt haben, dass wir in einer illegalen Gaststätte sehr viele Flaschen von Schaumwein vor uns haben."
    Der kostbare Inhalt war nach 200 Jahren freilich nicht mehr da. Ausgegraben haben die Archäologen jede Menge Bruchstücke:
    "Mehrere Tausend Scherben, keine einzige komplette Flasche, aber sehr viele Flaschenhälse."
    Die Form verrät dem Fachmann den einstmaligen Verwendungszweck:
    "Die hatten einen weitausgezogenen Rand, daran kann man eben erkennen, dass dort der Korken befestigt war."
    Wirt als Nebenberuf
    Dass die Schankwirtschaft vom jeweiligen Pförtner des dortigen Gefängnisses widergesetzlich betrieben wurde, weiß der Archäologe aus schriftlichen Quellen. Trotz zahlreicher Beschwerden der örtlichen Wirte haben die Amtsleute des gegenüberliegenden Amtshauses die Schenke nie geschlossen:
    "Ein Grund dürfte darin gelegen haben, dass die Leute, die das hätten tun sollen, in der Tat dort eben selber verkehrt sind", spekuliert Donat Wehner. So kommt die archäologische Materialität, wie es im Titel seiner Habilitationsschrift heißt, sozialen Praktiken von damals auf die Spur. Nicht nur den Trink- und Essgewohnheiten. Im Landgasthaus von Deinste, nicht weit entfernt, hat er vergoldete sogenannte Flintern entdeckt, die der Forscher dem Kopfputz einer Frau zuordnet. Die Archäologie deckt auf, wie die Leute sich im Wirtshaus repräsentiert haben.
    "Und natürlich auch, wie sich der Konsum da wandelt, also die Globalisierung lässt sich dort nachvollziehen. Da taucht im 18. Jahrhundert zum Beispiel chinesisches Porzellan auf, aus dem Tee getrunken wurde", ergänzt Janna Kordowski. Sie hat in ihrer Masterarbeit Fundstücke aus dem Gasthaus "Zum goldenen Anker" in Hamburg-Harburg unter die Lupe genommen. Was die Ausgräber für eine Münze hielten, hat sie als Importware identifiziert:
    "Ein Bleiverschluss für venezianische Medizin, also für Theriak wahrscheinlich, das war eine Geheimmedizin, die exklusiv in Venedig hergestellt wurde und auch nur von da über Apotheken verhandelt wurde, also ein ausgesprochenes Luxusgut."
    Typische Wirtshausfunde sind dagegen Zapfhähne aus Messing, die mutmaßlich an Bierfässern steckten oder viele kleine Münzen. Sie belegen im Zweifel, dass an der Grabungsstelle überhaupt eine Gaststätte stand. Im Dorf Oudeschilds auf Texel gab es bis 1800 mehrere Bierschenken und Bordelle, in denen die niederländische Flotte verkehrte, erzählt Michiel Bartels, zuständiger Archäologe für die westfriesische Insel:
    "Und wir finden da tolle Sachen wie eine ganze Menge von Flaschen und Tellern, aber auch exotische Sachen wie Kokosnüsse und Schildkröten."
    Tausche Straußeneier gegen Bier
    Bartels vergleicht Fundstücke aus dem Hafendorf mit der Ladung von Schiffswracks. Auch in Amsterdam und anderen Städten haben sie Affen, Schmetterlinge und besonders Straußeneier ausgegraben:
    "Die wurden mitgenommen von Matrosen und dann getauscht oder verkauft gegen Bier oder etwas anderes.
    Der Schildkrötenpanzer hat zwei Löcher, wohl um ihn an der Wand zu befestigen:
    "Das ist also Dekoration. Das läuft nicht lebendig herum. Was das Interessante ist an der Archäologie von Wirtshäusern, ist dass wir meistens historische Quellen haben über diese Geschäfte und vielleicht auch geschriebene Inventare, was alles drinnen ist. Aber die Tatsachen aus dem Boden lügen nicht."
    Auch wenn der Archäologe sie interpretieren muss. In einer Dorfkneipe ist er auf politisch brisante Keramik gestoßen. Ein Spitz auf dem Geschirr war das ungewöhnliche Wappentier der demokratischen Patrioten, die Ende des 18. Jahrhunderts in den Niederlanden gegen die königstreuen Oranier gekämpft haben:
    "Und davon haben wir auch Teller gefunden. Das illustriert, dass dieser Streit nicht nur in der Stadt stattfindet."
    Hohe Politik am Stammtisch
    Den Teller mit Hundemotiv deutet Bartels als Beweis dafür, dass Politik auch in der Dorfkneipe Thema war. Einen deutlichen Unterschied zwischen Stadt- und Landleben macht Donat Wehner an Fundstücken aus Norddeutschland fest. Fast 50 Prozent des keramischen Materials, berichtet er, bestand hier aus Rauchutensilien, "während auf dem Lande Pfeifen meistens eher in geringeren Anteilen in den Schenken vertreten sind. Was dafür spricht, dass man in der Stadt eher Orte der Geselligkeit, der Zeitvertreibs vor sich hat, während eben auf dem Lande dann schlicht die Unterkunft, die Verpflegung im Vordergrund stand."
    Ähnlich vermutete Grabungsleiter Fritz Jürgens, dass sich in der Schenke an einer Eisenbahnbaustelle im Kreis Höxter die Arbeiter verpflegt hätten. Er wurde überrascht:
    "Als wir dann die Funde hatten, die waren relativ hochwertig im Vergleich zu anderen Funden, haben wir eigentlich rausgefunden, dass das gar nicht zur Versorgung der Arbeiter diente, sondern viel mehr der Besucher und der leitenden Ingenieure, also völlig anders als gedacht eigentlich.
    Der Arbeiter hat den lieben langen Tag geschuftet, sagt der Kieler Wissenschaftler: "Und die Ingenieure oder die Besucher, die zur Baustelle kamen, die haben dann da oben gesessen, haben ihr Porzellanpfeifchen geraucht und haben noch den Schnaps getrunken, den Branntwein, den wir auch nachweisen konnten durch Glasgefäße."
    Grausiger Fund in der Eisenbahnschenke
    Konnte der Archäologe hier relativ gut rekonstruieren, wie es um 1846 in der Eisenbahnschenke zuging, geben Wirtshausfunde an anderer Stelle Rätsel auf. Die Brandenburger Archäologin Nicola Hensel hat im Hof des "Schwarzen Adlers" von Teltow ausgegraben:
    "Die Gaststättenbefunde waren jetzt nicht so aufregend, aber was wir gefunden haben, sind drei Tote, also drei Skelette. Leider sehr schlecht erhalten und ohne Beigaben. Das einzige, was wir wissen, ist, dass die neuzeitlich sind und sie sind auch in christlicher Orientierung bestattet worden, aber ohne Sarg."
    Vielleicht gab es einen Streit mit tödlichem Ausgang oder einen Überfall auf Reisende, erwägt Hensel zwei Möglichkeiten: "Und um das zu vertuschen hat man dann in einer Nacht-und-Nebelaktion diese Männer im Hof vergraben. Also wirklich auch in der hinteren Ecke."
    Am wahrscheinlichsten findet sie eine Auseinandersetzung zwischen preußischen und napoleonischen Soldaten, die zur Zeit der Befreiungskriege im "Schwarzen Adler" einquartiert waren. Der ungelöste Kriminalfall ist jedoch die Ausnahme. Professor Ulrich Müller von der Uni Kiel:
    "Das Spannende dabei ist einfach, dass die Archäologie der Neuzeit oder der Vormoderne und Moderne nicht nur aus Schlachtfeldern besteht oder nicht nur aus Hinrichtungsplätzen oder nicht nur aus Lutherhaushalten."
    Theke statt Diskothek
    Die Wirtshausarchäologie erlaubt einen Blick zurück ins ganz gewöhnliche Leben der Menschen vor dem Siegeszug von Fernsehen, Sportvereinen, Diskotheken und Smartphones.
    "Der Alltag der Leute ist eben, dass man sich in der Kneipe im Gasthaus getroffen hat, kommuniziert hat, ausgetauscht hat usw. sich gestritten hat, geliebt hat oder was auch immer, das war einfach ein Desiderat, und ich fand's toll", resümiert sein Chef Donat Wehners Initiative, Gasthäuser zu einem Forschungsthema der Neuzeitarchäologie zu machen.