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Wissenschaft trotz Waffengang
Uni Tübingen kooperiert im umkämpften Kurdistan

Das Institut für die Kulturen des alten Orients der Universität Tübingen unternimmt derzeit Forschungsreisen in Kurdistan. Im Nordirak sind die Archäologen aus Tübingen hochwillkommen, denn je mehr Archäologen aus dem Ausland kommen, desto mehr werden die Probleme von Dohu in aller Welt bekannt.

Von Thomas Wagner | 06.02.2015
    "An der Oberfläche ist ein kleiner Hügel, der mit Scherben übersät ist. Wir sammeln dann die Scherben auf, um zu sehen, aus welcher Periode die datieren. Wir machen dann fotogrammetrische Aufnahmen mit einer Drohne und erzeugen 3-D-Modelle."
    Wenn Professor Peter Pfälzner über sein jüngstes Forschungsprojekt spricht, gerät er regelrecht ins Schwärmen. Pfälzner arbeitet am Institut für die Kulturen des alten Orients der Universität Tübingen. Die derzeitigen Grabungsreisen führen ihn und sein Team in die nordirakische Stadt Dohuk, mitten in der autonomen Provinz Kurdistan:
    "Die Frontlinie war an einem sehr kritischen Zeitpunkt, nämlich in den ersten Augusttagen 2014, sehr nahe. Das waren etwa 30, 35 Kilometer. Das war die Zeit, als die Bedrohung durch diese ISIS-Terroristen am stärksten war. Und in dieser Zeit haben wir uns aber tatsächlich in die Türkei zurückgezogen."
    Sicherheit steht für die Archäologen an erster Stelle
    Nicht einmal das kleinste Risiko eingehen - das bleibt für Pfälzner und sein Team oberste Devise. Mittlerweile konnten die ISIS-Milizen zurückgedrängt werden. Die Region Dohuk, in der die Tübinger Wissenschaftler nach archäologischen Schätzen suchen, gilt als sicherer Ort. Darauf legt Ferhard Ameen Alatroushi, Gouverneur von Dohu, bei seinem Besuch an der Universität Tübingen großen Wert:
    "Ich lege dafür meine Hand ins Feuer: Bei uns ist es nicht gefährlich. Vor zwei Wochen hatten wir erst die amerikanische Schauspielerin Angelina Jolie zu Gast, die den Flüchtlingen bei uns helfen will. Sie hat sogar bei uns übernachtet. Jeden Tag kamen Botschafter zu uns, manchmal auch Minister. Auch der deutsche Generalkonsul besucht uns regelmäßig."
    Grünes Licht für Ausgrabungen
    Sicherheit in Dohuk bedeutet für die Tübinger Archäologen aber auch: "Grünes Licht" für die Ausgrabungen. Dabei geht es um Spuren, die rund 5000 Jahre alt sind, so Professor Peter Pfälzner:
    "Besonders interessiert uns in dieser Region im Irak die Zeit des akkadischen Weltreiches. Das ist ja das erste Weltreich der Geschichte, das expandiert ist vom Süden Mesopotamiens aus. Und dieses Reich hat um 2300 vor Christus die Region, in der wir arbeiten, erobert und hat möglicherweise am Zentrum begründet."
    Ein Siedlungszentrum, dessen Überreste sich in jenen Hügeln erhalten haben, die die Tübinger Wissenschaftler untersuchen. Ebenso sind sie auf Überreste des assyrischen Großreiches gestoßen, das im ersten Jahrtausend vor Christus auf das Gebiet des heutigen Nordirak vorgedrungen ist. Bei der Auswertung der Funde interessiert sich Archäologe Peter Pfälzner vor allem für eine Fragestellung: Warum sind die Akkaden und die Assyrer vor langer Zeit in den Nordirak gekommen, wo es dort weder besonders viele Rohstoffvorkommen noch besonders fruchtbare Böden gibt? Pfälzners These:
    "Es waren in erster Linie nicht die Rohstoffe, sondern andere Arten von Ressourcen - Ressourcen, die durchaus im Bereich des kulturellen, im Bereich des Sozialen sogar liegen. Das können ideologische, ideelle Dinge sein: Das kann eine bestimmte Landschaft sein, die eine Bedeutung hat für eine Kultur. Da können religiöse Strukturen sein, heilige Plätze. Es können aber auch Menschen sein, mit bestimmtem Wissen, bestimmtem Hintergrund, Experten vielleicht, die man aus diesen Gebieten heranholen wollte. Wir sind ja jetzt erst am Anfang."
    Hilfe aus dem Ausland dringend benötigt
    Im Nordirak sind die Archäologen aus Tübingen hochwillkommen - und das, obwohl Gouverneur Alatroushi in seinem Alltag mit Problemen konfrontiert wird, die weit entfernt sind von Grabungsarchäologie: Mehrere hunderttausend Flüchtlinge müssen betreut werden; die Wirtschaft liegt brach, es fehlt an Geld für die öffentliche Infrastruktur. Und trotzdem: Je mehr Archäologen aus dem Ausland kommen, desto mehr werden die Probleme von Dohu in aller Welt bekannt. Denn die Wissenschaftler sehen nicht nur ihre Grabungshügel.
    "Die wichtigste Botschaft, die wir an die Welt, an Länder wie Deutschland senden wollen, ist aber: Ja, wir kümmern um uns auch um Archäologie, um das Erbe unserer Geschichte. Aber wir haben auch andere Probleme - wirtschaftliche Probleme, Sicherheitsprobleme - könnt Ihr uns auch dabei helfen?"
    Hilfe aus dem Ausland, angestoßen durch kulturelle und wissenschaftliche Kooperationen wie der mit Tübingen, schaffe letztlich auch Arbeitsplätze – und damit eine neue Lebensperspektive gerade für junge Menschen:
    "Gerade aus den armen Gegenden kommen viele Jugendliche, die dann bei diesen Terrorgruppen anheuern. Sie kommen aus niedrigen Bildungsschichten. Und um das zu verbessern, ist es einfach wichtig, mit Ländern wie Deutschland zusammen zu arbeiten."
    Kulturstätten sichern
    Das sieht auch der Tübinger Archäologe Peter Pfälzner so: Seine Arbeit vor Ort in Dohuk gehe ganz bewusst über das rein wissenschaftliche Erkenntnisinteresse hinaus:
    "Wir sagen gerne, dass wir letztendlich auch als Archäologen ISIS bekämpfen, und zwar auf der Ebene und in dem Sinne, dass diese Terroristen ja ganz gezielt versuchen, Kulturstätten zu zerstören, um auch der Bevölkerung ihre Identität zu rauben. Und wir ziehen aus, um Kulturstätten zu sichern, zu entdecken. Und das ist für die Bevölkerung dort sehr, sehr wichtig. Es ist identitätsstiftend. Es hebt den Stolz auf die eigene Geschichte, auf das eigene Land. Und insofern ist es in einem doppelten Sinne sinnvoll: Für uns rein wissenschaftlich, aber auch als Zeichen der Völkerverständigung, der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem irakischen Teil Kurdistans."