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Wissenschaftlicher Durchbruch 2018
Blick ins embryonale Gehirn

Jedes Jahr kürt die Wissenschaftszeitschrift Science den „Durchbruch des Jahres“. Im Jahr 2018 zeichnet das Blatt eine Methode aus der Molekularbiologie aus: die Einzelzell-RNA-Analyse. Sie ermöglicht es Forschern, einen direkten Blick auf die Entwicklung eines Embryos zu werfen.

Von Michael Lange | 27.12.2018
    Undatierte mikroskopische Querschnittsaufnahme eines ganzen zerebralen Organoids.
    Der "Wissenschafts-Durchbruch 2018" ermöglicht Einblicke in die Entwicklung von Gehirn-Organoiden (Picture Alliance / dpa / Madeline A. Lancaster/nature)
    Sie schwimmen in einer rötlichen Flüssigkeit und sind mit bloßem Auge gut zu sehen als winzige, blasse Knödel - zwei bis fünf Millimeter im Durchmesser. Wie Schneeflocken treiben sie in ihrem Nährmedium, das sie mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Es handelt sich um embryonale, gehirnartige Strukturen. Wissenschaftler nennen sie Gehirn-Organoide.
    Barbara Treutlein vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig holt ein Schälchen mit den schwimmenden Mini-Gehirnen aus dem Brutschrank und stellt es unter ein Mikroskop.
    "Also, man kann jetzt diese Regionen sehen, die ein bisschen herauskommen aus dieser Kugel. Und wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass es da drinnen einen Hohlraum gibt. Das ist dieser Ventrikel, den man auch im menschlichen Gehirn findet."
    Wann sind welche Gene aktiv?
    Die Gehirnstrukturen sind aus menschlichen Körperzellen entstanden. Sie wurden im Labor zu Stammzellen umprogrammiert, zu so genannten iPS-Zellen. Diese wachsen heran zu Gehirnzellen, die sich ähnlich anordnen wie in einem menschlichen Embryo. Und sie verhalten sich auch so.
    "Die Zellen kommunizieren miteinander, aber das sind nicht die gleichen neuronalen Netzwerke, die sich ausbilden wie im menschlichen Gehirn. Ich würde nicht sagen, dass ein Gehirn-Organoid denkt."
    Die Nervenzellen in den Gehirn-Organoiden sind also aktiv. Um zu denken, fehlt ihnen jedoch der Inhalt. Ihre Gene verhalten sich aber genauso wie in einem Embryo. Sie werden ein- und ausgeschaltet, und die Genaktivität entscheidet darüber, wie sich ein einfacher Zellklumpen zu einem komplizierten Gehirn entwickelt.
    Die Einzigartigkeit des menschlichen Gehirns
    Barbara Treutlein will wissen, was das menschliche Gehirn so besonders macht. Warum ist es im Verhältnis zum Körper deutlich größer als bei anderen Primaten? Dazu studiert sie die Einzelheiten der Gehirnentwicklung an Organoiden. Sie verwendet eine ausgetüftelte Methode, genannt Einzel-Zell-RNA-Analyse oder Einzel-Zell-Transkriptomik.
    "Diese Methode erlaubt, in einzelne Zellen zu schauen: Diese Gene sind im Moment eingeschaltet. Dann weiß man: Was für Typen von Zellen sind in dem Organoid zu finden? Und in was für Stadien befinden sich diese Zellen gerade? Welche Zellen teilen sich in dem Moment? Sind die Neuronen aktiv oder nicht? Was für verschiedene Gehirnregionen bilden sich aus? Man kann sehr viele Informationen diesen Experimenten entnehmen."
    Die neue Methode wird vom Wissenschaftsmagazin Science als Durchbruch des Jahres 2018 gefeiert. Mit ihr lässt sich die Aktivität vieler tausend Gene in Tausenden Zellen parallel untersuchen. Die Zellen werden markiert, und dann die RNA-Moleküle in jeder einzelnen Zelle entziffert. Eine bestimmte RNA-Abschrift vom Erbmolekül DNA entsteht stets dann, wenn das zugehörige Gen aktiv ist. Die ermittelten Aktivitätsmuster liefern ein umfassendes Bild aus dem Innern eines Embryos oder – wie am Max-Planck-Institut in Leipzig – unmittelbar aus dem embryonalen Gehirn.
    Vergleich mit Schimpanse und Neandertaler
    Zunächst vergleichen die MPI-Forscher Gehirn-Organoide von Mensch und Schimpanse. Als nächstes ist dann die nähere Verwandtschaft an der Reihe, auch wenn sie bereits ausgestorben ist, wie der Neandertaler.
    Der Vergleich der Gehirnentwicklung ist möglich, weil das Erbgut des Neandertalers vollständig bekannt ist und somit auch alle Stellen im Erbgut, an denen sich Homo sapiens und Neandertaler unterscheiden, erläutert Gray Camp, ebenfalls Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
    "Wir verändern die iPS-Zellen, aus denen die Organoide entstehen. Mit einer Genschere manipulieren wir dann einzelne Positionen im Erbgut der Zellen - genau an den Stellen, wo sich Homo sapiens und Neandertaler unterscheiden. Und zwar so, dass einige Gene im Homo sapiens-Organoid aussehen wie bei Neandertalern oder anderen Frühmenschen. "
    Anders ausgedrückt: Gray Camp hat das Ziel, menschliche Gehirn-Organoide Schritt für Schritt zu "neandertalisieren". Dann kommt erneut die Einzel-Zell-RNA-Analyse zum Einsatz. Mit ihr kann er die Unterschiede zwischen verschiedenen Gehirnen genau kennenlernen.