Freitag, 19. April 2024

Archiv

WM-Nachlese
Tragödien von antikem Ausmaß

Ein Stück Rasen als Bühne, elf Ball-Künstler als Ausführende. So viel Tritte und Tränen, so viel Schweiß und Blut, so viel Flehen und Fallen – das wird in die Theatergeschichte des Fußballs eingehen, meint DLF-Redakteur Hajo Steinert in seiner persönlichen Bilanz der Fußball-WM.

Von Hajo Steinert | 14.07.2014
    Luiz Gustavo und Dante ärgern sich über eines der vielen Gegentore im WM-Spiel gegen Deutschland.
    Luiz Gustavo und Dante ärgern sich über eines der vielen Gegentore im WM-Spiel gegen Deutschland. (picture alliance / dpa / Sharifulin Valery)
    Diese Fußball-Weltmeisterschaft war ein höchst unterhaltsames Theaterfestival. Die gespielten Stücke waren so reich an Einzelschicksalen wie noch nie zuvor. Und wie das auf den Bühnen der Welt so ist - wahre Größe geht von den Verlierern, von den Geschlagenen, von den Verzweifelten, von den Getretenen, von den Gebissenen, von den Geächteten, von den Niedergerungenen, von den Blutenden aus.
    Der verzweifelte, draculaeske, durchaus erotomanische Biss des uruguayischen Schauspielers Luis Suárez beim Laufen in die Schulter seines italienischen Widersachers Georgio Chiellini, das exhibitionistische Hervorzeigen der nackten Schulter desselben mit der Leidensmine eines Kriegsheimkehrers – das war Shakespeare pur. Oder wer es etwas zeitgemäßer will: Jean Genet. Und dann das Zucken im Bein des costa-ricanischen Regisseurs Jorge Luis Pinto. Im letzten Moment hat der Versuchte am Bühnenrand, sprich, an der Seitenauslinie, in einem Anflug von Vernunft, soeben noch seinem Drang trotzen können, das vorbei rasende Bein eines Griechen umzusäbeln.
    Theaterkritiker in aller Welt grübeln seit Wochen, wann es das zuletzt gegeben hat, dass ein mit seinem Ensemble unzufriedener Regisseur mitten in der Aufführung auf die Bühne will, um dem letzten Akt eine dramatische Wendung zu geben, die den Ausgang des Stücks auf den Kopf stellen soll, und hundertprozentig nicht mit dem Dramaturgen abgestimmt war.
    Und dann die Kniefälle und Stoßgebete tränenüberfluteter Brasilianer, die uns mit Inbrunst ermahnt haben, dass großes Theater ohne metaphysische Dimensionen, ohne die Beschwörung des Allmächtigen jenseits der Zuckerhüte des Lebens nicht möglich ist. Allen voran David Luiz mit seinen Engelslocken wie einst Robert Plant von Led Zeppelin und der Leidensmiene eines Gekreuzigten, dessen gequältes Lächeln nach verlorener Schlacht selbst noch beim Gang zurück in die Garderobe in der Weltöffentlichkeit Anlass zu Mitleidsbekundungen gab, wie es sie auf den vernunftgesättigten, eher vom Intellektuellen als von reinen Emotionen lebenden europäischen Bühnen nicht gibt.
    Oder James Rodriguez, jener kolumbianische Himmelsstürmer, von den Musen höchster Fußballkunst schon im Jünglingsalter Geküsster, der Sonnen – sprich: Torschützenkönig des Festivals, James Rodriguezy, nach der entscheidenden Niederlage in Tränen ausgebrochen wie ein Knabe, dem man gerade mitgeteilt hat, dass er nie wieder raus zum Spielen darf, James Rodriguez, der allerdings ebenso wie der brasilianische Überflieger des Festivals, Neymar da Silva Santos, die schmerzhafte, höchst ambivalente Lektion über sich ergehen lassen musste, dass ein kollektives Versagen des Ensembles einerseits die Voraussetzung für die Geburt oder Eskalation eines Geniekults um die eigene Person ist, andererseits die Genialität des persönlichen Auftritts, die Emanzipation gleichsam vom Rest des Handlungsverlaufs, das gespielte Stück in seiner Gesamtheit nicht retten kann. Wer sich vom Bühnenfußvolk so weit entfernt wie dieser Dribbelkönig, muss damit rechnen, dass die Theaterkritik seine künftigen, zum Egomanischen neigenden Auftritte mit spitzer Feder kommentieren wird, trotz der Tragödie die ihn ereilte, als er nach der kriegerischen Hetzjagd auf ihn, gipfelnd in der Attacke eines kolumbianischen Söldners, der nach Art der Verzweiflung, wie sie nur einem Unterlegenen eigen ist, dem Bühnenfeger einen Wirbel brach.
    Absurdes Theater mit großen Themen
    So viel Tritte und Tränen, so viel Schweiß und Blut, so viel Flehen und Fallen, so viele schmerzverzerrte Gesichter, so viel "Theater der Grausamkeit" – das wird in die Theatergeschichte des Fußballs eingehen. Wäre das grandiose Endspiel gestern Abend nicht gewesen, man wäre mit dem finalen Eindruck, dass es große Gesten und Emotionen, die Lust am Zweikampf, am Kampf Mann gegen Mann nur noch auf lateinamerikanischen und nicht mehr auf europäischen Bühnen gibt, wieder nach Hause gefahren. Die gleichsam intellektuelle Gelassenheit, wie das spanische und italienische Theater ihre Niederlagen hingenommen haben, war verblüffend.
    Einer der größten Momente gestern in der Arena bescherte uns allerdings ein Argentinier. Lionel Messi demonstrierte mit seinem Abgang, dass das absurde Theater mit seinen großen Themen - Weltverlorenheit, Einsamkeit, Verurteilung ohne persönliche Schuld – noch längst nicht passé ist. Wie er da, von dunklen Mächten, sprich, einer Armee von Bodyguards, eher ausgegrenzt als beschützt, die Stufen im Stadion, mit tieftraurigem Gesicht, mit der Mimik und Motorik eines Verlierers hinauf auf den für ihn unerträglichen Olymp schlich, um den Pokal des besten Spielers – er selbst fühlte sich nur als Verlierer - an seine schwach gewordene Brust zu drücken, wird man niemals vergessen. Der einsame Krieger verlässt entwaffnet, einer tiefen Innerlichkeit hingegeben, das Schlachtfeld in Trauer und Einsamkeit – das war große Messi-Kunst. Das war eine Tragödie von antikem Ausmaß.
    Und wie das deutsche Fußballspiel neben der Vervollkommnung seiner von Natur aus eher der Rationalität als einem Sturm und Drang hingegebenen Ensembleleistung am Ende noch einen wahren Einzelkämpfer, einen Heroen ins Feld schickte, tröstete oder begeisterte alle, die glaubten deutsche Fußballkunst bestünde vor allem aus Strategie und Taktik.
    Bastian Schweinsteiger, gefoult, geschlagen, mit einem Kinnhaken niedergestreckt, blutend in seinem schmerzenden, aber immer noch kampfbereiten Gesicht, fast schon vom Feld geführt, von der Bühne getragen, dem Tode nahe, der Ersatzmann wartete schon auf seinen Einsatz, Bastian Schweinsteiger, wieder auferstanden, eine leuchtend rote Wunde unter dem Auge -, mit letzten Kräften hat er das unvergessliche Stück zu einem ruhmreichen Finale geführt. Große Verlierer auf der Bühne des Weltfußballs mögen unvergesslich sein. "Schweini" indes ist seit gestern unsterblich.