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Wo Deutsche Menschenfleisch essen

Die melancholische Integrationskomödie "Almanya – Willkommen in Deutschland" zeigt aus der türkischen Perspektive, was es heißt, hier dazuzugehören und sich doch dessen nie ganz sicher zu sein.

Von Christoph Schmitz | 06.03.2011
    "Was bin ich denn nun, Deutscher oder Türke?"

    Den Eltern ist nicht so ganz klar, welche Nationalität ihr sechsjähriger Sohn Cenk eigentlich hat. Alle hängen sie so ein bisschen in der Luft in dieser großen aus der Türkei stammenden Familie Yilmaz, in die mittlerweile auch eine deutsche Blondine eingeheiratet hat. Die Blondine und ihr türkischer Mann fühlen sich von der Frage des Kindes förmlich überrumpelt. Selbst die Großeltern sitzen zwischen den Stühlen. Um 1970 sind sie mit ihren kleinen Kindern aus dem türkischen Südosten als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Und jetzt, im Jahr 2009, wollen die mittlerweile Großmutter gewordene Frau Yilmaz und ihr Mann in einer deutschen Beamtenstube die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen. Das Familienoberhaupt fantasiert einen Albtraum:

    "Deutsche Leitkultur ... "

    Kaum ist Großvater Yilmaz aus seinem Assimilationsalbtraum aufgewacht, kaum sind die deutschen Pässe ausgehändigt, trommelt er die große Familie zusammen:

    "Ich habe eine Überraschung ... in Heimat"

    Der komplette Clan macht sich auf zum neuen Haus in die türkische Heimat der Großeltern. Und dem kleinen Cenk erzählt die erwachsene Cousine in Episoden die Einwanderungsgeschichte der Familie. So rollt der Film die Identitätssuche seiner Protagonisten vom Anfang und vom Ende der Migration auf. Mit leichter Hand verwoben, humorvoll, komödiantisch, ohne die Umbrüche, den Schmerz, die Verlorenheit und die Herausforderungen in der Fremde kleinzureden. Aber immer wieder scheint der Film förmlich ins Gelächter über die skurrilen Momente der Akkulturation auszubrechen:

    "Ratten"

    Die Ratte entpuppt sich als Glatthaardackel, den die türkischen Jungs bei ihrer Ankunft in Deutschland zum ersten Mal sehen.

    "Die Deutschen essen Menschenfleisch"

    Das christliche Abendmahl ist bei dem Jungen als Kannibalismus angekommen, und als er in der neuen deutschen Wohnung den Gekreuzigten aus Holz an der Wand sieht, wird dieser in seinen Augen lebendig und stürzt sich hungrig auf ihn.

    Neben solch surrealen Sequenzen stehen die Bilder einer modernen türkischstämmigen Familie heute. Ihr Integrationsweg scheint gelungen zu sein. Wohltuend fern sind Parallelgesellschaft, Zwangsheirat und Ehrenmord. In einem Maße, dass Großvater Yilmaz als eine Million und erster Einwanderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel schriftlich nach Berlin ins Schloss Bellevue eingeladen wird. Dort soll er eine Rede halten. Auf der Urlaubsreise in die Heimat übt er schon einmal:

    Zwischen den komödiantischen, realistischen und surrealen Bildern gibt es auch nostalgische, fast märchenhafte Szenen. Etwa wenn der Film erzählt, wie sich die Großeltern als junge Menschen in der bäuerlich-idyllischen Welt des Südens kennenlernen, verlieben und heiraten. Gegen Ende stößt die Geschichte gar zu einem magischen Realismus durch. Der auf der Ferienreise plötzlich verstorbenen Großvater, der Großvater als junger Mann, die Großmutter als alte und junge Frau, die Jungen und Alten – alle finden sie in einem poetischen Traumraum zusammen. So haben die Samdereli-Schwestern aus vielen bunten Stoffen einen babylonischen Teppich gewoben. Ein heiterer und liebenswerter Stilmix. Über den könnte man den für alle Beteiligten schweren Prozess der Integration fast vergessen.