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Wo Dunkelheit herrscht

Jacques Chessex, der als erster nichtfranzösischer Autor 1973 den Prix Goncourt erhielt, ist das Image des Menschenfresserbiografen nie ganz losgeworden, seit er mit "L'ogre" (Der Kinderfresser), seinem vierten Buch, weit über Frankreich hinaus allgemeines Aufsehen erregte. Inzwischen sind 35 Jahre vergangen, und noch immer, oder wieder, steht ein Mann mit ausgefallenen Neigungen im Mittelpunkt eines Romans des inzwischen 74-jährigen Westschweizer Autors.

Von Alain Sulzer | 08.01.2009
    Es ist ein kurzer Roman - eigentlich eine Novelle oder Chronik -, der sich aus ungenannten Quellen nährt; die Begebenheiten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen sei anderen als dem Rezensenten vorbehalten. Dieser und der Leser wollen erst einmal glauben, was man ihnen da im kargen Ton dokumentarischen Erzählens an Ungeheuerlichkeiten schildert, die sich just dort zutrugen, wo deren Chronist seit über dreißig Jahren lebt, in Ropraz.

    Ropraz ist ein Dorf im Waadtländischen Haut-Jorat. Hier, wo es zu Beginn des 20. Jahrhunderts "keine großen Geschäfte, Fabriken, Manufakturen" gab, hatte man nur das, "was man der Erde abringt, also so gut wie nichts." Dort, wo man zwanzig Jahre zuvor den letzten Wolf erschoss, moderne Hygiene aber noch unbekannt war, lasteten die Traditionen schwer. Wo fast nichts ist, herrscht Dunkelheit vor allem in den bedrückten Herzen der Menschen. Wo Verhärtung ist, bleibt immerhin viel Platz für Phantasmen. Gefährlich wird es dann, wenn einer sich anschickt, sie in die Tat umzusetzen.

    Wo Dunkelheit herrscht, ist auch die Verwirrung nicht weit. Ein idealer Ort für finsteren Aberglauben und inzestuöse Familienverhältnisse, der sich wie kaum ein anderer dazu eignet, den Hintergrund einer literarischen Schauergeschichte abzugeben. Hier wird ein hübsches junges Mädchen leicht zum "Stern, der Verrücktheiten anzieht", wie jene Rosa Gilliéron, die in den kalten Februartagen des Jahres 1903 im Alter von nur zwanzig Jahren einer Hirnhautentzündung erliegt und von vielen zu Grabe getragen wird. Was schon schlimm genug ist, kann sich ins Ungeheure, Unerhörte steigern.

    Die Verrücktheit ereignete sich in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 1903, und wurde am Tag darauf entdeckt: Rosas Grab wurde geöffnet, der Kopf halb abgetrennt und in den aufgeschnittenen Rumpf gesteckt, die Brüste wurden "zerkaut und wieder ausgespuckt", das Geschlecht "weggeschnitten, herausgelöst, zerkaut, gefressen"; der Leichenfledderer hat Blut- und Spermaspuren hinterlassen. In der dörflichen Abgelegenheit, wo sich die Phantasien üblicherweise in den Köpfen auszutoben pflegen, hat einer Ernst gemacht.

    Die Kunde von der Untat dringt bis nach Amerika. "The Vampire of Ropraz", wie man den Unbekannten nennt, macht in der internationalen Presse Karriere, lange bevor 1922 Graf Dracula, die edlere Version, den Weg auf die Leinwand findet. Die große Welt hat ihren neuesten Fall besonderer Grausamkeit - und delektiert sich mit Schaudern. Die kleinere Welt um Ropraz hat bald auch ihre Verdächtigten. Ein Totengräber, ein Medizinstudent und ein paar schräge Vögel werden festgenommen, mangels Beweisen aber bald wieder freigelassen.

    Die nächsten Fälle lassen nicht lange auf sich warten. Am 14. April werden in Carrouge Kinder beim Fußballspiel mit Nadine Jordans Kopf entdeckt; auch deren Grab wurde geschändet, auch deren Leichnam weist Spuren von Kannibalismus auf. Wenige Tage später wird auf dem Friedhof von Ferlens, unweit der anderen Orte, der schrecklich zugerichtete Leichnam einer dritten jungen Frau entdeckt, die das Opfer des Vampirs wurde.

    Es dauert nur noch drei Wochen, bis ein überzeugender Schuldiger gefunden ist. Charles-Augustin Favez, ein vom Schicksal alles andere als begünstigter 21-jähriger Knecht mit sodomitischen Neigungen, auffallend langen Zähnen und blassem Teint wird verhaftet und einvernommen. Schon 1892 hat Doktor Delay in seinem Bericht über den zehnjährigen Favez vermerkt, er sei "für sein Alter stark entwickelt, ungeheuer blass und seine Augen rot unterlaufen, ‚als würde ihm das Tageslicht weh tun'." Dennoch wird der mit allen Charakteristika eines Vampirs geschlagene Favez aufgrund des Gutachtens eines renommierten Psychiaters am 9. Juli auf freien Fuß gesetzt. Dr. Mahaim, der in Favez einen exemplarischen Fall für seine Studien und Studenten wittert, legt überzeugend dar, wozu Favez nicht fähig sei. "Favez mit verschiedenen Stücken Tierfleisch auf die Probe gestellt" sehe sich außerstande, "damit fertig zu werden. Weder mit seinem ‚kleinen Messer' noch mit besonders scharfem Metzgerwerkzeug vermochte oder verstand es Favez, das Fleisch eines am Vortag geschlachteten Tieres zu zerteilen." Doktor Mahaim, der dem Unterschied zwischen der Leiche einer jungen Frau und der einer alten Kuh offenbar so wenig Bedeutung beimaß wie dem zwischen einer vor aller Augen und einer heimlich begangenen Tat, zog daraus den Schluss, Favez sei unschuldig und schleunigst freizulassen, was umgehend geschah.

    Favez revidiert das positive Urteil durch ein unleugbares Verbrechen. Völlig betrunken dringt er sieben Tage später - am 16. Juli 1903 - in Mézières in das Haus der Witwe Dubois, vergewaltigt sie und beißt sie mehrfach so heftig in Mund und Hals, dass die Bisswunden noch Tage später zu sehen sind. Der Fall scheint nunmehr klar, der Mob fordert die Todesstrafe zurück, die vor einem Vierteljahrhundert abgeschafft wurde. Favez' Verhaftung hat auch den Zweck, der Selbstjustiz zuvorzukommen.

    Da unwiderlegbare Beweise auch im Nachhinein nicht erbracht werden können, gibt es keinen Grund, Favez zweifelsfrei für den allein möglichen Schuldigen zu halten. Lichtere Gestalten mit finstereren Gedanken gab es dort, wo der Vampir sein Wesen trieb, gewiss zuhauf. Für Favez' Schuld spricht am ehesten, dass es nach seiner zweiten Festnahme zu keinen weiteren ähnlichen Vorfällen kam. Es scheint also, als habe man den Richtigen erwischt, und auch Chessex versucht nichts anderes zu unterstellen. Am 24. Dezember wurde Favez ohne Zubilligung mildernder Umstände zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Immerhin gelang es Doktor Mahaim, die Strafe in eine lebenslängliche Verwahrung in der Heilanstalt von Cery umzuwandeln.

    Und dort wäre er sicher auch geblieben, wenn ihm nach fünfzehn Jahren - bei attestierter guter Führung - nicht die Flucht gelungen wäre. Sein (verbürgtes?) Verschwinden markiert - bei Jacques Chessex - die Transfiguration ins Literarische. Auf knappen viereinhalb letzten Seiten ermöglicht Chessex dem Leichenschänder ein neues Leben. Im selben kühlen Ton, in dem er uns die Fakten lieferte, erzählt der Autor nun, was, wie ich denke, allein seiner Fantasie entsprungen ist und was an dieser Stelle auf keinen Fall vorweggenommen werden soll: Nämlich: Wie es weiterging mit dem Vampir von Ropraz. Welchem anderen Schweizer er auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs begegnete, der ihn lange vor Chessex unter anderem Namen als literarische Figur benutzte und unsterblich machte; und vor allem: an welcher prominenten Stelle er heute als der bekannteste anonyme Tote der westlichen Welt begraben liegt.

    Doch lesen sie selbst wie ein Autor am Ende den festen Boden der Realität verlässt, um ins Reich der anarchischen Fiktion abzuheben.

    Jacques Chessex. Der Vampir von Ropraz. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. 95 S. Nagel & Kimche 2008