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Wörter für Körper

Die schönsten Wörter in Daniela Seels neuem Gedichtband "ich kann diese stelle nicht wiederfinden" sind "kondomverpackungsschnitzel", "schmauchspurtattoo" und - wenn man gleich zwei zusammen nimmt - "klinkenkunde für klinkenkunden", allesamt klein geschrieben, wohlgemerkt.

Von Volkmar Mühleis | 04.05.2011
    Der Gedichtband wird thematisch von Gedanken zum Körper zusammengehalten.
    Der Gedichtband wird thematisch von Gedanken zum Körper zusammengehalten. (Stock.XCHNG / Beatriz Chaim)
    Und die schönsten Wörter wären keine, wenn es sich bei ihnen nur um Blendwerk handeln würde, wenn sie nicht eingebettet wären in die Tragfähigkeit der einzelnen Gedichte. Daniela Seel hat ihren Band in fünf Gedichtreihen unterteilt, die in sich eher assoziativ oder auch thematisch komponiert sind. Das Wort "schmauchspurtattoo" stammt aus der Reihe "fuchsia". Um ein Gefühl für das Spiel der Autorin mit ihren Begriffen zu bekommen, bietet ihre Vorstellung von dem Wort "fuchsia" einen guten Anfang:

    "Am Wort 'Fuchsia' hat mich genau dieses Hybride gereizt, dass es erstmal natürlich eine Pflanze ist und dann aber auch schon im allgemeinen Sprachgebrauch eine Farbe bezeichnet, und dass es aber auch so nahe am Fuchs dran ist, dass es ganz leicht zum Tier wird und durch das A und durch die Klanggestalt auch ein Kosewort ist, und so wie ich es in dem konkreten Gedicht verwende, ist es ja eigentlich eine Koseansprechform für eine Person. Und genau eben dieses Aufplatzende der Bedeutung und dass es plötzlich in viele Dimensionen ausgreift, das hat mich an dem Begriff fasziniert, und dann natürlich auch wieder die Klanggestalt, es ist einfach ein wahnsinnig schönes Wort, was man ganz toll sagen kann - fuchsia."

    Soweit die Erklärung. Wie aber klingt ein Gedicht aus dieser Reihe? Die Autorin gibt eine Kostprobe:

    "Ich habe ein Gedicht geschrieben auf meinen Namen - Daniel, Gott sei mein Richter. Das hat mich jahrelang geärgert, so einen Namen zu haben, und dann habe ich einen Rumpelwalzer geschrieben: "imprisoned in presence", das stürzte gleich/ runter. nur darum waren die fädchen durch/ ein korsett ersetzt. silberfell, ketten. wie flecken/ aus lauter abwesenheit, knitternd, unter zu wenig/ gewicht. mond an der wand zwischen kacheln/ ein strich, hirschbalg auf seiner lichtung rührte sich,/ rührte sich nicht. atem stand, rauschte, ich ging/ in die knie, spürte tatzen, kammern im eis, wo es/ tickt. nie war das licht aufrichtig. nie war es einfach/ das licht, das aufrichtet. goldwasser, nachtigall,/ biest. mondstrich, mondstrich, mein herz sticht./ mir träumte, es taut. mondstrich, versuche mich,/ richte, komm sauf s zerschossne korsett mir aus."

    Der Gedichtband wird thematisch von Gedanken zum Körper zusammengehalten, von der ersten Reihe "wo ihr körper beginnt" und der letzten, die den gleichen Titel trägt wie das Buch selbst: "ich kann diese stelle nicht wiederfinden". Der Körper wird dabei von seinen Bekleidungen her erkundet. Stellvertretend steht dafür der Satz: "ich habe mir ihren körper dann einfach/ umgebunden wie eine schürze." Die Bezeichnung "ihr" ist doppelgesichtig: Da die Autorin alles klein schreibt, kann sie manchmal eine Anrede sein oder auf eine Frau hinweisen. In der Mitte des Bandes geht die Autorin dann ausdrücklich zum Wir über, in der Reihe "wir. der charakter der landschaft". Gemeinsam mit der folgenden Serie "wiederholte testreihen" drängt sich hier fast der Eindruck von Liebesgedichten auf - wenn jedoch Liebesgedichte, dann nur solche der Ernüchterung, der Auskühlung eigener Gefühle. Die Autorin meint:

    "Also ich glaube eigentlich, ich habe noch nie ein Liebesgedicht geschrieben. Für mich sind es, wenn dann (lacht), mmh, ja, wenn, dann so Gedichte über die Nicht-Liebe, oder vielleicht schon über Anläufe, die dann aber nicht, die nicht wirklich, oder - keine Ahnung. Wirklich schwer zu beantworten! Also auch gerade eben diese beiden Kapitel, die sind mir schon sehr fremd geworden. Dieses 'wir. der charakter der landschaft' sind die ältesten enthaltenden Texte, also der Band versammelt ja Texte aus fast 13 Jahren, und die sind eben alle 1998, Anfang '99 erschienen und haben für mich fast schon eher dokumentarischen Charakter. Und natürlich geht es da auch um Zweierverhältnisse, aber dieses Wir ist schon eher ein Gruppen-Wir und auch ein Generationen-Wir, was eben danach fragt, wie können wir uns heute eigentlich vorstellen, in einer medialisierten Umwelt? Und diese Wir-Texte entstanden in einer Zeit als gerade - also 1998 kam Google auf den Markt, und als es im Internet gerade so losging und sich plötzlich ganz, ganz viel grundlegend veränderte in Kommunikationsformen und in Wahrnehmung und wie man Informationen über etwas bekommt. Diese ja auch über das Ich hinausgreifenden Entwicklungen sind da eigentlich viel stärker thematisiert als so was wie eine Liebesbeziehung."

    Während die erste Reihe "wo ihr körper beginnt" noch von den Gestalten und Verwandlungen des Körpers, auch des Sprachkörpers, ausgeht, so tritt im letzten Kapitel die, wie Seel schreibt, "Entzweiung" des ausdrücklich eigenen Körpers in den Vordergrund. Es ist ein Kapitel, das vom eigenen Schmerz und dem Tod des Andern handelt, von einem nie Gekannten, nie in den Armen Geborgenen. Während des Lesens drängt sich die Frage auf: Sind es Gedichte einer Fehlgeburt?
    "Ja, ganz genau. Und das ist eben auch der am stärksten autobiografisch motivierte Text, wo es, für mich als Funktion, ist es eine Grabstelle. Um auch noch mal auf den Titel zurückzukommen, 'ich kann diese stelle nicht wiederfinden' - dieses Gedicht versucht ein Grab zu sein für dieses - ja, wie soll man eigentlich sagen? - dieses Kind, was eben so früh nicht geboren wurde, dass es nicht mal eine Grabstelle gab. Und diese Unruhe, die das im Körper eben erzeugt, und auch - ich habe dadurch sehr viel gelernt über Rituale, und was Beerdigungen eigentlich bedeuten, und dass man einen Ort schafft, wo auch Schmerz gebunden ist, und an den man dann hingehen kann und das sozusagen dorthin bringen kann - und weil es diesen Ort nicht gab, dann ein Gedicht zu schreiben, was diese Funktion übernehmen kann, als Grabstelle, und das dann auch zu veröffentlichen, so wie eine Beerdigung ja auch ein Öffentlichmachen einer sehr privaten Erfahrung ist, um das einfach dann aufzufangen in der Gemeinschaft."

    Obwohl die Gedichte in diesem Band aus über einem Jahrzehnt stammen, ergeben sie stilistisch und konzeptuell ein überaus durchgearbeitetes Ganzes. So lassen sich bildsprachliche Verbindungen zwischen den ältesten und neueren Texten zeigen, wenn Daniela Seel bereits von "wortrümpfen" sprach, was später einmal der "körper des autors" werden sollte. Die unterschiedlichen Entstehungszeiten werden jedoch zurecht an keiner Stelle erwähnt, auch wenn die Autorin - als Leiterin des KOOKbooks-Verlages zugleich ihre eigene Verlegerin - im Anhang auf vorherige Einzelveröffentlichungen mancher Gedichte allgemein hinweist. Ihren Gedichtband präsentiert sie mit genau jener Konsistenz, die er verdient. Und das zeigt sich bis ins kleinste Detail: die schönsten Wörter. Zum Abschluss einen neuen Kandidaten aus Daniela Seels Wortreichtum - "kippeln".

    Daniela Seel: "ich kann diese stelle nicht wiederfinden"
    Gedichte. KOOKbooks Verlag, 64 Seiten kosten 17,90 Euro