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Wohnungsbaupolitik in Moskau
Umsiedlung und Abriss

In über 30 Prozent des Moskauer Stadtgebietes sollen alte Wohnblocks abgerissen werden, um neue Häuser zu bauen. Mehr als eine Million Menschen werden für das umstrittene Bauvorhaben umgesiedelt. Im Frühjahr gingen deshalb Tausende auf die Straße. Genützt hat es nichts.

Von Gesine Dornblüth | 14.08.2017
    Ein Gebäude aus den 1950er Jahren in der Innenstandt von Moskau, das die Regierung gerne abreißen würde.
    Eines der fünfstöckigen Gebäude aus den 1950er Jahren in der Innenstandt von Moskau, das die Regierung gerne abreißen würde. (dpa / picture alliance / Vladimir Pesnya)
    Julia Nikolajewa wohnt mit ihrer erwachsenen Tochter in einer Einzimmerwohnung im Erdgeschoss eines fünfstöckigen Wohnblocks. Sie teilen sich 31 Quadratmeter. Der Kühlschrank steht im ohnehin engen Flur, in der Küche trocknet Wäsche. Es ist kein Durchkommen:
    "Ich habe die Türen herausgenommen, das schafft immerhin etwas Platz. Meine Tochter und ich schlafen in einem Zimmer. Eine auf dem Boden, eine im Bett. Wir wechseln uns ab."
    Derart beengte Wohnverhältnisse sind in Russland keine Seltenheit. Julia Nikolajewa hofft nun auf eine Verbesserung. Ihr Haus soll abgerissen werden. Es ist eine "Chruschtschowka", erbaut Anfang der 60er Jahre, benannt nach dem damaligen Staatsoberhaupt der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow. Der ließ die fünfstöckigen Häuser in Serie bauen.
    Mittlerweile sind die Gebäude marode, und das ist der offizielle Grund, weshalb die Stadt Moskau sie abreißen und hunderttausende Bewohner in neu zu bauende Hochhäuser umsiedeln will. Die Wohnungseigentümer konnten in den letzten Monaten darüber abstimmen, ob sie an dem Programm teilnehmen möchten. In ihrem Haus kam die erforderliche Zweidrittelmehrheit problemlos zustande, erzählt Julia Nikolajewa:
    "Jetzt habe ich keinen Balkon. Ich kann mir nicht mal ein Fahrrad kaufen, weil ich nicht weiß, wo ich es abstellen soll. Uns wurde versprochen, dass jede neue Wohnung einen Balkon hat. Oder eine verglaste Loggia. Ich glaube daran."
    Werden die alten Mieter wieder in ihre Bezirke zurückkehren?
    Ihr großer Wunsch ist, auch weiterhin in derselben Straße zu wohnen. Sie liegt zentral, direkt an einem Park. Die Nachbarn sind nett, und sie ist in zehn Minuten zu Fuß bei der Arbeit, in einem Kosmetikstudio. Das Gesetz, das Präsident Putin vor wenigen Wochen unterzeichnet hat, sieht vor, dass die Menschen innerhalb ihres Bezirks umgesiedelt werden. Aber der Bezirk ist groß:
    "Klar gibt es auch Orte in unserem Bezirk, in denen es nicht so grün ist, wo es laut ist, an einer großen Straße. Es gibt hier sogar Industriegebiete. Dahin würde ich sehr ungern ziehen. Ich glaube daran, dass genau an dieser Stelle ein neues, besseres Haus für uns gebaut wird. Ich will daran glauben. Garantiert ist das nicht."
    Baupläne hat sie noch nicht gesehen. Sie lächelt. Auf ihrem T-Shirt steht "Are you dreaming?" Julia Nikolajewa:
    "Alle Leute wollen etwas geschenkt kriegen. Das ist natürlich. Über 70 Jahre hat der sowjetische Staat die Leute versorgt, auch mit Wohnungen. Das haben die Leute immer noch im Kopf. Aber die Spielregeln haben sich geändert. Die Leute haben das nur noch nicht verstanden."
    Der Ingenieur Wjatscheslaw Borodulin wohnt gleichfalls in einer Chruschtschowka, jedoch oben, im fünften Stock. Auch sein Haus soll abgerissen werden. Auf dem Dachboden steht ein Warmwassertank, von dort tropft es ständig durch die Decke in seine Wohnung. Trotzdem ist Borodulin gegen den Abriss - aus rechtlichen Gründen:
    "Zurzeit gehört den Wohnungseigentümern anteilig der Grund und Boden, auf dem ein Haus steht. Wenn ein Bürger der Renovierung zustimmt und umzieht, ändert sich die Situation. Grund und Boden werden dann der Stadt oder der "Stiftung Renovierung" gehören. Der Wohneigentümer steht im Zweifelsfall ohne Rechte da."
    Bürgerwohl oder Profit für Immobilienfirmen?
    In Wirklichkeit gehe es der Stadt gar nicht um das Wohl ihrer Bürger, meint Borodulin, sondern darum, wertvolles Bauland zu bekommen, es teuer zu verkaufen, Bauaufträge zu vergeben und dabei abzukassieren:
    "Es geht nur um kommerzielle Interessen. Darum, schnelles Geld zu machen. Sie wollen die Bevölkerungsdichte erhöhen und das frei werdende Land an zahlungskräftige Kunden verkaufen."
    Doch die Zustimmung zu dem Umsiedlungsprogramm ist groß. Nur etwa jede zehnte Eigentümerversammlung hat dagegen gestimmt. In der Folge wurden rund 500 Häuser aus dem Programm gestrichen. Zugleich kamen mehr als tausend Häuser, die von der Stadt ursprünglich gar nicht für den Abriss vorgesehen waren, per Abstimmungen der Wohnungseigentümer hinzu.
    Wann die ersten Häuser abgerissen werden, ist noch unklar. Beobachter rechnen mit einer Klagewelle. Bei zahlreichen Abstimmungen soll es Unregelmäßigkeiten gegeben haben. Anfang August ging bei einem Moskauer Gericht deshalb bereits die erste Klage ein.
    Gegner des Abrisses haben zudem angekündigt, sich an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zu wenden. Ihr Argument: Per Mehrheitsbeschluss über den Besitz anderer zu entscheiden, verletze das Recht auf Eigentum.