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Wolf Schneiders Autobiografie
Erinnerungen an goldene Jahre

Wolf Schneider, bekannt als deutscher "Sprach-Papst", der im Mai seinen neunzigsten Geburtstag feierte, hat nun seine Autobiografie vorgelegt hat: "Hottentotten Stottertrottel" ist eine packende Heldengeschichte über die Hochzeit des deutschen Journalismus. Dabei verschweigt Schneider nicht, dass er in seinem Leben auch immer wieder Niederlagen einstecken musste.

Von Maike Albath | 14.06.2015
    Der Journalist und Moderator Wolf Schneider
    Der Journalist und Moderator Wolf Schneider, bekannt als Sprachkritiker und Verfasser von Stillehrbüchern. (picture alliance / dpa / Georg Wendt)
    Fast hätte er sich erschossen. An seinem zwanzigsten Geburtstag stand der Soldat Wolf Schneider an einem holländischen Weiher, den Krieg in den Knochen, von der Kapitulation gedemütigt, und erwog die Vor- und Nachteile einer Selbstexekution. Es war der 7. Mai 1945. Er war nach dem Abitur im Januar 1943 eingezogen worden und mit heiler Haut davon gekommen. Nun fürchtete er Zwangsarbeit in Holland. Es kursierten die wildesten Gerüchte.
    "Angst zu haben gab es also gute Gründe. Im Tümpel quakten die Frösche. Ich schließe nicht aus, dass das Melodramatische dieser unwiederholbaren Stunde mich fasziniert haben könnte: Meine Welt geht unter, das Schicksal bin ich selbst! In den Mund sollte man sich schießen. Ein Kumpel neben mir, vielleicht ein Spintisierer wie ich, eine wechselseitige Ermutigung – und wer weiß? Doch ich war allein mit dem Lärm der Frösche, und Eisen schmeckt ja schlecht. So schleuderte ich ihnen die 08 entgegen, erst später durch Tucholskys schönes Wort bestätigt: Ich hätte mir doch sehr gefehlt."
    Schon damals überwog das, was den späteren Journalisten auszeichnen sollte: Neugierde und ein zäher Wille, sich durchzubeißen. Wolf Schneider, 1925 in Erfurt geboren und in Berlin aufgewachsen, lässt in seiner Autobiografie die Stationen seines nunmehr neunzigjährigen und, wie er es selbst tituliert, "wunderlichen" Lebens Revue passieren, und er tut es mit einer Mischung aus Schmiss und Akribie. Schneider arbeitet mit ähnlichen Effekten wie in seinen Artikeln und Reportagen – knallig der Anfang mit dem verworfenen Selbstmord, gründlich die Darstellung der beruflichen Laufbahn, erzählerisch, wenn es um Reisen, Auslandsaufenthalte und spektakuläre Bergtouren geht. Immer wieder spitzt Wolf Schneider seine Haltung zu, Ausgewogenheit ist ihm zu langweilig. Seine Positionen muss man nicht teilen; ein facettenreiches Panorama des westdeutschen Journalismus liefert sein Rückblick allemal. Den roten Faden der 450-seitigen Autobiografie, deren Titel "Hottentotten Stottertrottel" auf einen Zungenbrecher anspielt, bildet die berufliche Laufbahn. Manchmal fragt sich der Leser, wie es denn eigentlich um die Kindheit dieses auskunftsfreudigen Mannes bestellt war und welche Erfahrungen ihn geprägt haben mögen. Eine biedere chronologische Darstellung passt allerdings nicht zu diesem Autor. Bewusst bricht er mit dem Schema und liefert erst auf den letzten 150 Seiten Kindheitsszenen, Jugend, die Zeit als Soldat und Porträts seiner Familie nach. Dem Krieg entronnen, verdingte sich der Zwanzigjährige zuerst als Erntehelfer und fand dann in München über seinen Schwager einen Job als Englischdolmetscher bei BMW. Insgeheim wusste er längst, was er wollte: Journalist werden. Jetzt kam ihm seine Unbeirrbarkeit zu Gute. Nachdem er mit ersten Bewerbungen bei einer Pressestelle und einem Journalistenlehrgang gescheitert war, ließ sich Schneider als Übersetzer bei der von den Amerikanern verantworteten "Neuen Zeitung" anstellen, hielt anderthalb Jahre durch und schrieb auf eigene Faust einen ersten Artikel, der zwar nicht gedruckt wurde, ihm aber die Tür zur redaktionellen Arbeit öffnete. Das Nachwuchstalent landete im Politikteil. Sieben Mal musste Schneider seinen ersten Text umschreiben, erst dann kam er ins Blatt. Genau die richtige Schule, befindet der Autor.
    "Mein zweites Schlüsselerlebnis hatte ich im Sommer 1949, und der es mir verschaffte, war der 34-jährige stellvertretende Chefredakteur Ernst J. Cramer, in Augsburg geboren, in die USA emigriert und, wie Hans Habe, als amerikanischer Major zurückgekehrt. Ich war zum Nachrichtendisponenten für die Innenpolitik aufgestiegen und fragte ihn besorgt, was wir mit dieser Nachricht machen sollten: Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, damals weit populärer als Konrad Adenauer, hatte die amerikanische Besatzungsmacht in einer Rede mit unerhörter Schärfe kritisiert – unseren Herausgeber also. Was tun? Ignorieren? Auf Seite 2 verstecken? Cramer sagte: "Einerseits wäre das ein Aufmacher. Andrerseits (er kratzte sich am Kopf). Also: Dreispaltig über den Bruch." Die zweitgrößte Nachricht des Tages! Der Unmut der Besatzungsmacht hatte sich auf den Kommentar zu beschränken. Das war er, der klassische angelsächsische Journalismus! Er hat mich begleitet, er hat mich begeistert, im Spiegel habe ich ihn jahrzehntelang vermisst – und immer wieder Cramer öffentlich gegen Augstein ins Feld geführt."
    Geschichten aus der Hochzeit des Journalismus
    Bis 1955 gab es die "Neue Zeitung", 53 Chefredakteure gingen aus ihr hervor. Schneider wechselte 1950 als Korrespondent zur amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press. Von der Tagespolitik bis zu Gerichtsreportagen und amüsanten Ereignissen für die Rubrik Vermischtes musste er alles bedienen und jederzeit verfügbar sein – öffentliche Fernsprechapparate ersetzten das Handy. Sechs Jahre später bot man ihm die Leitung der Nachrichtenredaktion der "Süddeutschen Zeitung" an. Schneider akzeptierte, denn auf Redaktionskonferenzen und beim Blattmachen konnte er stärker gestalten. Bei seinen Schilderungen überfällt einen bisweilen große Wehmut. Zeitung war damals ein Medium der Zukunft, die Redakteure wollten informieren und bewerten.
    "Wir selektierten und redigierten die Nachrichten von drei Agenturen, dem Bonner Büro, den Korrespondenten in Frankfurt, Hamburg, Berlin – und fast einem Dutzend Auslandskorrespondenten; die teilte sich die "Süddeutsche" mit der Frankfurter "Neuen Presse" und der "Rheinischen Post", der Kosten wegen. Die Texte kamen per Fernschreiber, wurden per Kugelschreiber redigiert, oft aus mehreren Agenturen zu langen Fahnen zusammen geklebt, ausnahmsweise unserer Sekretärin diktiert (der mit der einzigen Schreibmaschine im Raum) und schließlich per Rohrpost in die Setzerei geschossen. Beim "Umbruch" das eindrucksvolle Agieren der Metteure: Mit schöner Ökonomie, oft mit kaltem Witz "bauten" sie aus Bleisatz, Handsatz (für die Überschriften) und Regletten die Seite; ein Nachrichtenredakteur hinter ihnen, um bei Not zu kürzen oder eine Verschiebung der Gewichte gutzuheißen. Klassische Handarbeit, sichtbare Verwandlung unserer abstrakten Wortgebilde in physische Substanz! Das ergab eine Genugtuung, um die es schade ist – der des Tischlers ähnlich, wenn er abends den Tisch betrachten kann, der morgens noch nicht existiert hat."
    Es war die Hochzeit des Journalismus, gute Texte waren gefragt, man warb um die besten Reporter. Schneiders erstes Sachbuch über die Zukunft der Städte entstand, das 1960 auf der Bestsellerliste landete, hinter Alma Mahler-Werfel, D.H. Lawrence und Alfred Andersch. Bildung war der Schlüssel zu sozialem Aufstieg, wer etwas auf sich hielt, las Bücher und hatte eine Zeitung abonniert. Das anonyme Streiflicht, die legendäre Glosse auf Seite 1 der SZ links oben, wurde für Schneider unter W.E. Süskind zu einer Stil-Schule. Ein gleichermaßen klares wie farbiges, knisterndes und pfiffiges Deutsch sei das Ideal gewesen, erzählt er. Es gehört zu den Vorzügen dieser Autobiografie, dass Schneider ausdrücklich seinen Lehrern dankt, die Mühsal der Lehrjahre nicht verschweigt und Irrtümer freimütig offenlegt. Mitte der Sechziger Jahre sollte er den Korrespondenten in Washington vertreten, was ihm sehr zupass kam. Bis zum Januar 1966 berichtete er aus den USA. Präsident Johnson, die Änderung des Wahlrechtsgesetzes und Rassenunruhen kommen ebenso vor wie die Anti-Vietnam-Demonstrationen der Studenten. Komplett falsch eingeschätzt, bekennt Schneider, habe er die Kriegsbereitschaft der Amerikaner: Sie würden in Vietnam am Ende den längeren Atem besitzen und als Sieger hervorgehen, prognostizierte er damals. Auch die unvorstellbare 946 Seiten dicke Sonntagsausgabe der New York Times wurde zum Gegenstand eines Artikels. Zurückgekehrt nach München wurde Schneider 1966 von Henri Nannen abgeworben und wechselte zum Stern, damals die aufregendste Illustrierte Deutschlandlands mit großartigen Fotostrecken. In Nannen begegnete er dem ersten Haudegen unter den Zeitungspatriarchen, der zweite sollte Axel Springer sein. Schneider zollt dem Berserker durchaus Respekt, attestiert ihm quecksilbrige Intelligenz, glänzendes Handwerk und einen Instinkt für Themen. Gepaart war das Ganze aber nicht nur mit Ignoranz, sondern vor allem mit einem ausgeprägten Hang zum Sadismus - aus seinem Büro seien "Leichenteile" herausgeflogen, heißt es, die der stellvertretende Chefredakteur dann wieder zu Menschen zusammensetzten musste. Schneider wurde Chef vom Dienst und Textchef und erlebte das schwierigste Jahr seiner beruflichen Laufbahn.
    Martialischer Habitus und Kasernenbefehlston in der Redaktion
    "Gerungen zum Beispiel darum, dass Bilder, Überschrift und Vorspann alles tun, um den flüchtigen Blätterer zu animieren, er möge zu lesen beginnen; und dass der erste Satz vor allem die Einladung ausspricht: Lies auch den zweiten! Und der zweite: lies auch den dritten! Wer nur blättert und nicht liest, ist in einer Viertelstunde fertig und kauft den Stern nie wieder. Ein drastisches Lehrstück über dieses Lebenselixier der Zeitschrift führte Nannen in meiner Gegenwart mit einem Redakteur auf, der ihn für die Vorab-Lektüre eines zehnseitigen Manuskripts gewonnen hatte. Er hörte nach einer Minute auf, rief den Redakteur zurück und sagte barsch: "Ihr Manuskript taugt nichts." Der Redakteur entgeistert: "Aber Sie können doch die zehn Seiten schon unmöglich gelesen haben!" Nannen: "Nein, ich habe im dritten Absatz aufgehört." Der Redakteur: "Aber ich musste doch im dritten Absatz..." Darauf Nannen mit Donnerstimme: "Das erzählen Sie mal unseren zehn Millionen Lesern, was sie im dritten Absatz mussten! Gehen sie raus."
    Der Krieg war eben doch noch nicht sehr lange her, und in den ausschließlich von Männern geführten Zeitungen und Zeitschriften schien Kasernenhofton zu herrschen. Gleichzeitig peitschte Nannen seine Mannschaft mit diesem Führungsstil zu Bestleistungen hoch. Zweihundert Redakteure waren beim Stern beschäftigt, jede Woche produzierte man drei Mal so viel, wie ins Heft kam. Es ging um die richtige Mischung aus knallharter Politik, mitreißenden Reportagen, Bildern und witzigen kleineren Formaten, jede Ausgabe sollte eine Überraschung sein. Schneider spricht von Süffigkeit – damals schienen die ersten Tiefausläufer des New Journalism in Deutschland anzukommen, plötzlich wollte man Geschichten erzählen. Der "Stern" spielte in einer Liga mit "Paris Match" und "Life"; die Auflage war doppelt so hoch wie die des "Spiegels". Es war die Ära der großflächigen Reportagen, und als nachgeborene Journalistin könnte man blass werden vor Neid. Platz, Gehälter, Kollegen, gesellschaftliche Reputation – alles schien im Übermaß vorhanden. Die Verlage machten riesige Umsätze. Wer die Lage der gedruckten Zeitung von heute kennt, fragt sich allerdings, wieso man sich damals blind auf die Anzeigen der Privatwirtschaft verließ und niemand einen Gedanken an alternative Finanzierungsmodelle verschwendete. Dass die Werbung in andere Medien abwandern könnte, war offenkundig unvorstellbar. Schneider ließ sich auf Nannen ein, schuftete wie ein Kohlenträger und war unter den jüngeren Reportern, die mit der Studentenbewegung sympathisierten, bald als Reaktionär verschrien, was er mit Gleichmut hinnahm und fast, so scheint es, genoss. Als man ihn für Springer abwerben wollte, avancierte er zum Verlagsleiter des "Sterns". 1971 kam es dann doch zum Wechsel; er sollte für Springer ein neues Nachrichtenmagazin entwickeln, um dem "Spiegel" ein bisschen einzuheizen. Es war eines dieser Angebote, die man nicht absagen kann.
    "Schließlich: viel lebhafter wollten wir sein – zehnseitige Titelgeschichten, wenn überhaupt, dann mit anschaulicher Gliederung; Analysen und Reportagen planmäßig wechseln; auf jeder zweiten oder dritte Seite ein kleines Schmunzelstück: Glosse, Satire, Anekdote. Und Kommentare natürlich als solche gekennzeichnet. Schon im Mai fragte der Vorstand an: Ob ich mir auch einen Ko-Chefredakteur vorstellen könnte? Durchaus – wenn ich ihn wählen darf! Was halten Sie von Joachim Fest?, fragte ich. Mit dem war ich locker befreundet, er befand sich in der Endphase seiner großen Hitler-Biografie, er fand die Idee ganz reizvoll – und wieder gab es viel Gegacker um ein ungelegtes Ei: Die Pressedienste wurden unverzüglich informiert, "Fest und Schneider wollen dem 'Spiegel' Konkurrenz machen." In Berlin residierte ich in einer ständigen Suite im Hilton-Hotel nahe der Gedächtniskirche. Schon am 22. Mai sollte ich dem Verleger unser Konzept präsentieren. Ich rotierte. Springer hörte mir drei Stunden zu und zog das Fazit. "Ich bin tief beeindruckt. Ich sehe zum ersten Mal nach einem Vierteljahrhundert die Chance, dem 'Spiegel' Konkurrenz zu machen." Peter Tamm, der Vorstandsvorsitzende, sprach danach zu mir zu mir bloß zwei Worte: "Totaler Sieg."
    Martialisch ging es zu unter den Oberen der Medienwelt, immer wieder hat man bei Schneiders Erzählungen das Gefühl, in einem Heereshauptquartier gelandet zu sein. Auch die Methoden erinnern an Kriegsführung. Schneider erklärt einige Seiten später, weshalb man ihn so frei walten ließ und sämtliche Personalien gleich hinausposaunte: Der "Spiegel" ließ sein Magazin bei Springer drucken, und solange dies der Fall war, durfte der Verlag ohnehin kein Konkurrenzblatt auf den Markt bringen. Aber die Verträge standen zur Verlängerung an. Schneider war der Herrenriege also gut genug dafür, einen Popanz aufzubauen, um den "Spiegel" von der Kampfbereitschaft zu informieren, sollte es zu einer Kündigung kommen - tatsächlich herausbringen wollte man ein derartiges Heft gar nicht. Von nun an betraute man den hoch bezahlten Kollegen mit wechselnden Aufgaben, mal sollte er dieses Organ erneuern, mal jenes Produkt aus dem Verlag aufpolieren, bis er schließlich zum Chefredakteur der "Welt" erhoben wurde. Schneider engagierte sich für eine Entstaubung des Blattes und steuerte die Zeitung von ihrem äußerst rechten Kurs in liberalere Gewässer. Selbst konservativer Gesinnung, kritisierte er Willi Brandt, weigerte sich aber, Franco, Salazar oder Pinochet zu verharmlosen. Seinem Arbeitgeber war er viel zu selbstständig, der erzreaktionäre Springer erwartete eiserne Gefolgschaft, aus seinem Vorzimmer erreichten den Chefredakteur Leserbriefe von begeisterten Deutsch-Chilenen, die er gefälligst abzudrucken hatte. Schneider parierte nicht – und wurde geschasst und vier Jahre lang bei laufenden Bezügen zum Nichtstun verdammt. Selbst Jahrzehnte später ist dem Autor die Kränkung noch anzumerken, obwohl er sich um einen aufgeräumten, sachlichen Ton bemüht und nichts verbrämt. Man hielt ihn hin, er schrieb Bücher und ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. 1978 bekam er von Nannen das Angebot, die neu gegründete Journalistenschule von Gruner + Jahr zu leiten. Das war eine Aufgabe nach seinem Geschmack.
    Liebeserklärung an die Ehefrau
    "Und so hielt ich am Freitagabend der ersten Woche, bei Bier und Brot, etwa folgende Ansprache: 'Falls ihr euch für Genies haltet, sehe ich mich in einer von drei Rollen. Entweder ihr seid Genies, wie Mozart – dann seid ihr immer noch gut bedient, wenn ihr einen Vater habt, der euch erstens in die Feinheiten des Klavierspiels einweist und euch zweitens Disziplin aufzwingt; die war des kleinen Mozart Stärke nicht. Oder ihr seid zwar Genies, aber faul wie Paganini. Den zwang sein Vater zum Geigen mit Prügeln und mit Essensentzug, und der Sohn blieb ihm dankbar sein Leben lang. Oder: Ihr seid keine Genies – und dann sehe ich mich in der Rolle von Vivaldi: Der hatte es am Ospedale della Pietà nur mit Waisenmädchen zu tun. Die ließ er geigen, bis Blut kam, und sein Orchester wurde das Staunen der Welt."
    Ein bisschen spielte also auch Wolf Schneider den Feldwebel, aber er war offener als seine einstigen Chefs und ließ mit sich reden. Dass er auf hohen Standards bestand, zu denen nicht nur eine umfassende Bildung, sondern auch ein ordentlicher Satzbau, korrekter Konjunktiv und der Verzicht auf Jargon zählten, zeichnete ihn allerdings aus. Seine Ansprüche möchte man gerade heute Redaktionsleitern und Programmdirektoren, die von "headlines", "news"und "content" schwafeln, ins Stammbuch schreiben. Schneiders Autobiografie ist informativ, spannend und unterhaltsam. Nicht nachvollziehbar ist seine Kritik an der berühmten Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985. Ab und zu lässt sich Schneider von seinem Stolz davon tragen und schwelgt ein bisschen zu ausführlich in den eigenen Erfolgen. Besonders aufschlussreich aber sind die Kapitel über den "Stern" und Springer; die unerträgliche Mischung aus Herrenreitertum und tiefer Unsicherheit bei Axel Springer weiß Schneider plastisch zu vermitteln. Auf den letzten 150 Seiten wendet sich der Autor den ersten zwanzig Jahren seines Lebens zu. Nur knapp behandelt er Erlebnisse, die tiefe Einschnitte gewesen sein müssen: Ein fünfmonatiger Aufenthalt des Siebenjährigen im freudlosen Haushalt der Tante ist drei Absätze wert, der Selbstmord des älteren Bruders, der sich mit sechzehn erdolchte und von dem achtjährigen Wolf Schneider gefunden wurde, nur einen einzigen Satz. Den Horror kann man nur erahnen. Dass der Verfasser diesen familiären Verstrickungen nicht weiter nachgehen will, ist sein gutes Recht – als Leser setzt man sie unweigerlich in Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschaftlichen Umwälzungen. Ohne jede Beschönigung schildert Schneider die ideologische Massenpsychose: So wie Millionen anderer Deutscher begeisterte sich der Elfjährige für die Olympiade, bejubelte später den Sieg über Frankreich und teilte mit seiner Mutter das Entsetzen über das Attentat auf Hitler. Zur SS meldete er sich nicht; er wollte den Krieg lebend überstehen. Dass er als Nesthäkchen seiner Familie die bedingungslose Zuwendung der von den Schwestern als kalt bezeichneten Mutter genossen hatte, wappnete ihn vielleicht für sämtliche Schicksalsschläge. Mit acht oder neun stotterte er, was er sich mit langgezogenen Konsonanten und dem Zungenbrecher aus dem Buchtitel austrieb. Diese Willensstärke und eine gewisse Härte im Umgang mit sich selbst sind typisch für diejenigen seiner Generation, die nach dem Krieg Fuß fassen konnten. Dass er die teils bestürzenden Kindheitsepisoden aber an das Ende seines Buches stellt, ist auch ein Trick: Auf diese Weise klingt das Ganze eher nach einer Helden-Saga. Ein Gewinn ist die Lektüre in jedem Fall. Die letzten Zeilen der Autobiografie sind eine große Liebeserklärung an seine Frau. Und das nimmt einen wieder sehr ein für diesen gestrengen alten Mann.
    Wolf Schneider: "Hottentotten Stottertrottel. Mein langes, wunderliches Leben"
    Rowohlt Verlag Reinbek 2015, 448 Seiten, 19, 95 Euro