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Wolfdietrich Schnurre
Schlüsselfigur der frühen deutschen Nachkriegsliteratur

Durch seine Erzählung "Das Begräbnis" 1947 wurde Wolfdietrich Schnurre einer der Gründungsväter der später legendären Gruppe 47 und eine der Schlüsselfiguren der frühen deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein eigenes Begräbnis verfasste er schon zu Lebzeiten klare Anweisungen. Vor 25 Jahren starb er.

Von Christian Linder | 09.06.2014
    Wolfdietrich Schnurre
    Der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre (*1920), während der Internationalen Frankfurter Buchmesse 1978. (picture-alliance / dpa / dpa Porträtdienst)
    Er solle bitte seinen Lebenslauf erzählen, wurde Wolfdietrich Schnurre 1970 gebeten.
    "Ich fürchte, das wird eine sehr kurze Antwort sein, obwohl es jetzt fünfzig Jahre zurück liegt, dass ich in Frankfurt am Main auf die Welt kam. Der Vater war Bibliothekar, die Mutter ging sehr früh weg, und ich war sehr oft auf der Straße, wofür ich meinem Vater heute sehr dankbar bin, denn meine eigentlichen Kindheitseindrücke kommen aus dieser Zeit. Wir sind '28 nach Berlin gekommen, wo ich sozusagen ein zweites Mal auf die Welt kam."
    Seine dritte Geburt erlebte Schnurre 1945, als er nach sechseinhalb Jahren als Soldat im Zweiten Weltkrieg und mehrfachen Verhaftungen wegen "Wehrkraftzersetzung" begriff, dass er überlebt hatte. Schreiben wollte er und von seinem Überleben Zeugnis abgeben. 1947 traf er sich mit einigen anderen Autoren am bayerischen Bannwaldsee, mit der Verabredung, sich gegenseitig Geschichten vorzulesen und sie offen zu diskutieren. Es wurde die Geburtsstunde der Gruppe 47. Schnurre eröffnete die Lesungen mit der Kurzgeschichte "Das Begräbnis", die er 1977, zum 20-jährigen Jubiläum der Gruppe und zugleich auf ihrer letzten Tagung, noch einmal vortrug:
    "Ich stehe in der Küche auf dem Stuhl. Klopfts. Steig ich runter, leg den Hammer weg und den Nagel, mach auf. Nacht. Regen. Nanu, denke ich, hat doch geklopft ..."
    Die Kurzgeschichte erzählte von einem gewissen "Klott oder Gott", der "von keinem geliebt, von keinem gehasst nach "langem, mit himmlischer Geduld ertragenen Leiden" gestorben sei. Was man später "Kahlschlag-Literatur" nannte, dafür ist Schnurres Erzählung bis heute eines der markantesten Beispiele. Die Lakonie, vorgetragen mit Berliner Witz, wurde das Kennzeichen seiner Texte. Aber der Sprachwitz verdeckte nie den Grundton der Trauer über das, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland passiert war, und ebenso wenig konnte er Schnurres schreckliche Erinnerungen an seine Soldaten-Erlebnisse überspielen:
    "Das Gefühl jener Verlorenheit, wie es einen so häufig während des Krieges und mich zum Beispiel vor allem während der beiden russischen Winter befiel, wenn man die nackte Aussichtslosigkeit all dieses Wahnsinns vor Augen - nur schneeige Ödnis, blaufunkelnde Kälte und einen ungerührten Himmel um sich – in seinem eisverkrusteten Schützenloch hockte."
    Die in den ersten Nachkriegsjahren geschriebenen Kurzgeschichten haben Wolfdietrich Schnurres Ruhm begründet. Viele meinten beim Lesen den rasselnden, keuchenden Atem des Autors beim Schreiben hören zu können:
    "Das stimmt, was die allerersten Geschichten anging, also allerersten, das hieße, die Gechichten, die man zwischen '45 und '47 geschrieben hat, wo immer noch der Krieg einem im Nacken saß und das, was man dort erlebt hat. Wenn man seine literarische Jungfernschaft verliert, man wird skeptischer, man wird kritischer, man wird auch dem eigenen Keuchen gegenüber etwas hellhöriger – warum muss man keuchen, warum kann man nicht tief einatmen, kann mit tiefem Einatmen einen klareren Satz schreiben als wenn man ihn keuchend schreibt ..."
    "Am Grab keine Predigt, keine Ansprache, keine Musik."
    Als Schnurre wieder durchatmen konnte, schrieb er - neben weiteren Kurzgeschichten- Satiren, Kinderbücher, den Roman "Als Vaters Bart noch rot war", Hör- und Fernsehspiele, auch Gedichte. Wenn Schnurre – nicht zuletzt wegen seines politischen Engagements, das ihn deutlicher als andere Autoren gegen den Bau der Berliner Mauer protestieren ließ –zwar weiterhin eine der bekanntesten Figuren der deutschen Nachkriegsliteratur blieb, hat er doch darunter gelitten, dass man ihn mehr und mehr als Unterhaltungskünstler, als freundlich-heiteren Schnurre-Erzähler abtat. Ja, protestierte er, er fühle sich verkannt. Dann, Mitte der 1960er Jahre, erkrankte er an einer vollständigen Muskellähmung, so dass er sich nur noch mit den Augen verständigen konnte. Wie er diese Krankheit in einem langen Kampf überwand und mühsam wieder schreiben lernte, ist in dem 1978 erschienenen Band "Der Schattenfotograf" nachzulesen, für viele Schnurres bestes Buch. Den wieder anerkannten literarischen Rang dokumentierte 1983 die Verleihung des Georg Büchner-Preises. Fünf Jahre später, am 9. Juni 1989, starb Wolfdietrich Schnurre an Herzversagen. Die respektvollen Nachrufe zitierten seine Anweisungen fürs eigene Begräbnis:
    "Am Grab keine Predigt, keine Ansprache, keine Musik. Aber jemand mit guter Stimme soll die schönste Geschichte der Welt am offenen Grab vorlesen. Sie heißt 'Unverhofftes Wiedersehen', und es hat sie Johann Peter Hebel geschrieben. Ich bitte darum, schon am Grab, auf jeden Fall noch auf dem Friedhof, wieder Alltagsgespräche zu führen."