Dienstag, 19. März 2024

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Wolfgang Herrndorf
Tagebuch über den Prozess des Sterbens

Der Autor Wolfgang Herrndorf erhielt im Moment seines größten Erfolgs die Diagnose seiner tödlichen Krankheit: 2010 wurde bei ihm ein Hirntumor entdeckt. Seitdem hielt er alltägliche Begebenheiten und philosophische Betrachtungen in seinem Blog "Arbeit und Struktur" fest, welcher jetzt - nach seinem Tod - in Buchform erschienen ist.

Von Ralph Gerstenberg | 19.12.2013
    Als Wolfgang Herrndorf im Februar 2010 erfuhr, dass sich in seinem Hirn ein bösartiger Tumor ausbreitete, war er 44 Jahre alt. Eine Existenz als Kunstmaler und Illustrator lag bereits hinter ihm. Als Autor war er mit dem Roman "In Plüschgewittern" und dem Erzählband "Diesseits des Van-Allen-Gürtels" in Erscheinung getreten. Viel Kritikerlob war ihm von Anbeginn seiner Schriftstellerkarriere zuteilgeworden, 2004 hatte er den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt erhalten, der große Durchbruch jedoch gelang ihm erst im Herbst des Jahres, in dem er von seiner tödlichen Krankheit erfuhr. Der Roman "Tschick" über zwei jugendliche Außenseiter, die sich in einem geklauten Lada Niva ohne Kompass, Karte und Navi durch die mitteldeutsche Provinz schlugen, wurde zu einem Bestseller und befreite den bis dahin stets am Existenzminimum lebenden Herrndorf mit einem Schlag von seiner finanziellen Unterversorgung.
    "Arbeit und Struktur" als Blog gestartet
    Das Buch ist ein Hohelied auf die Freundschaft. Konsequent, wie er war, hatte Herrndorf es seinen Freunden gewidmet. Für sie war das digitale Tagebuch "Arbeit und Struktur" am Anfang ausschließlich bestimmt. Auf diese Weise wollte er sie auf dem Laufenden halten, wie es um ihn stand. Auch um Zeit zu sparen. Nur wenige Monate später führte er "Arbeit und Struktur“ als Weblog weiter. Und nun, wenige Monate nach Wolfgang Herrndorfs Tod, liegt es als Buch vor. Der erste Eintrag erfolgte im März 2010, Herrndorf war nach der Krebsdiagnose in die Psychiatrie eingewiesen worden und musste diverse Tests über sich ergehen lassen. Die Sitzungen mit den Psychologen empfindet er als zermürbend:
    Die Gespräche kommen mir mehr als einmal wie Dialoge aus dem Krimi vor, an dem ich die letzten Jahre gearbeitet habe. Der beginnt mit einem Mann, der ungeheure Kopfschmerzen hat, dann wird ihm der Schädel eingeschlagen, er erleidet eine Totalamnesie und unterhält sich achtzig Seiten lang mit einem Psychologen, der ihm erklärt, dass man von einem Schlag auf den Kopf keine Amnesie bekommt. Am Ende stirbt er.
    - Fällt Ihnen auf, wie schnell Sie sprechen?
    Ja, ich denke aber auch schnell. Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst, und zehnmal so viel.
    Gegen die Widerstände des eigenen Körpers
    Schnell schreiben, die Arbeit vorantreiben, das Angefangene zu Ende bringen, den Tagen, Wochen, Monaten, vielleicht Jahren, die noch verbleiben, das eigene Werk abtrotzen, das hieß auch: Zweifel vertreiben, gegen Widerstände ankämpfen, nicht nur gegen die im Krankheitsverlauf immer stärker zutage tretenden Widerstände des eigenen Körpers. Der Perfektionist Wolfgang Herrndorf, der monatelang an einem Satz feilen konnte, musste angesichts des unausweichlich heranrückenden Endes "schnellere Entscheidungen" treffen, wie sein Lektor Marcus Gärtner und die im Blog viel erwähnte befreundete Schriftstellerin Kathrin Passig in ihrem Nachwort schreiben. Die Arbeit wurde zum Halt, zur Herausforderung, zum sinnstiftenden Bedürfnis, zur strukturierenden Kraft. So gelang es Herrndorf, innerhalb von circa anderthalb Jahren sein Erfolgsbuch "Tschick" und den fast fünfhundert Seiten starken Roman "Sand" zu schreiben. Ein weiterer Roman mit dem Titel "Isa", eine Fortsetzung von "Tschick", konnte er nicht mehr fertigstellen. Für die Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod blieb das Blog, in dem Herrndorf am 2. April 2010 um acht Uhr morgens notierte:
    - Du wirst sterben.
    - Ja, aber noch nicht.
    - Ja, aber dann.
    - Interessiert mich nicht.
    - Aber, aber.
    Der Komödienstadl führt sein tägliches Spiel zum Weckerklingeln auf. Fünf Sekunden später beendet der Intendant die Vorstellung. Work!
    Für die Gegenwart und die Nachwelt zugleich geschrieben
    Auch das Blog ist Arbeit. Arbeit, die Wolfgang Herrndorf Zeit kostet, Zeit, die er nicht auf das immer als vorrangig empfundene Verfassen von Romanen verwenden konnte. In dem Blog sahen viele, auch er selbst, bald ein eigenständiges Werk, das der Verfasser nach seinem Tod in Buchform veröffentlicht wissen wollte. Er schrieb also für die Gegenwart und für die Nachwelt zugleich, wusste, dass das, was er da manchmal täglich, manchmal in größeren Abständen notierte, von bleibender Wahrhaftigkeit war. Diese Mischung aus Lektüreerlebnissen, Alltagsbegebenheiten, Arbeitsberichten, philosophischen Betrachtungen, poetischen Miniaturen, Erinnerungsfetzen und Traumsequenzen offenbarte mit jedem Eintrag Herrndorfs gnadenlose Aufrichtigkeit, seinen bis zuletzt vorhandenen Sinn für Humor und sein Ringen um Haltung und Klarheit. So ist "Arbeit und Struktur" im Laufe von knapp dreieinhalb Jahren zu einem beeindruckenden Dokument menschlicher Selbstwahrnehmung und Weltbetrachtung, von Mut und Wut im Angesicht des Todes geworden. Und doch hätte Wolfgang Herrndorf, ohne mit der Wimper zu zucken, sofort darauf verzichtet.
    Wenn ich noch eine Chance sähe, "Isa" fertigzustellen, wäre mit dem Blog Schluss, Beschränkung auf das Notwendigste, Rückkehr zur ursprünglichen Mitteilungsveranstaltung für Freunde und Bekannte in Echtzeit. Dafür war das gedacht. Aber funktioniert hat es nie. Statt alle Fragen zu beantworten und Zeit zu sparen, kostet es mich welche.
    Demütigende Alltagssituationen
    In den letzten Monaten seines Lebens werden Herrndorfs Aufzeichnungen spärlicher. Immer öfter müssen Freunde ihm dabei helfen, das Blog weiterzuführen. Das Erinnerungsvermögen nimmt rapide ab. Selbst der Name seiner Frau fällt ihm manchmal nicht mehr ein. Das Sprechen und Schreiben wird mühsamer. Demütigende Alltagssituationen, in denen die Worte fehlen. Epileptische Anfälle häufen sich, die Übersicht und das Orientierungsvermögen gehen verloren. Niemals, betont er an einer Stelle, habe er in seinem Leben etwas getan, was er nicht wollte - lieber kaum Geld verdient, als Unfreiheit ertragen! Die Momente der Autonomie werden jedoch selten. Diese wertvollen Augenblicke, in denen Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen, die Anwesenheit auf Erden in ihrer Einmaligkeit spürbar wird.
    Der Morgen gehört mir allein. Von der Steinstufe in den See, quer durchs Wasser, scheiß auf Epilepsie. Zurück, mühsam die Steinstufe hoch. Unfreiwillig rücklings wieder reingefallen. Noch mal und noch mal. Musste mir niemand helfen. War auch keiner da. Körperlich gleich besser ohne Chemo.
    Durch den Waldweg aus Holz und Harz: ein lang vergessener Geruch. Das sind die seit 40 Jahren abgehackten Lärchen im Garten meiner Großmutter.
    Ampel Seestraße. Zwei Läufer strahle ich breit an, kurz davor, ihnen mitzuteilen, wie groß mein Glück heute ist.
    Letzter Ausweg selbstbestimmter Tod
    Als letzter Ausweg aus einem Leben, dem mit jedem Tag die Selbstbestimmtheit abhandenkommt, bleibt ein selbstbestimmter Tod. Schon bald nach seiner Diagnose hatte Herrndorf sich eine Waffe besorgt und Wochen damit verbracht, Informationen über die fachgerechte Anwendung bei einer Selbsttötung zusammenzutragen. Im Nachwort zu seinem Buch, so sein ausdrücklicher Wunsch, sollte "für Leute in vergleichbarer Situation" dieses aufwendig angeeignete Wissen enthalten sein. Seine Freunde erwiesen sich auch in dieser Hinsicht als gute Freunde. Und so heißt es am Schluss:
    Wolfgang Herrndorf hat es gemacht, wie es zu machen ist. Am Montag, den 26. August gegen 23:15 schoss er sich am Ufer des Hohenzollernkanals mit einem Revolver in den Kopf. Er zielte durch den Mund auf das Stammhirn. Das Kaliber der Waffe entsprach etwa 9 mm. Herrndorfs Persönlichkeit hatte sich durch die Krankheit nicht verändert, aber seine Koordination und räumliche Orientierung waren gegen Ende beeinträchtigt. Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war.
    "Arbeit und Struktur" ist das gänzlich unpathetische, aber niemals abgeklärte Zeugnis eines Autors, der ohne Religion oder esoterische Mätzchen dem Tod noch eine Menge Leben abzutrotzen vermochte. Die letzten drei Jahre seien seine besten gewesen, heißt es gegen Ende. Und man glaubt ihm jedes Wort. Auch wenn er das Buch seinen Ärzten widmete, hat Wolfgang Herrndorf keine Krankengeschichte verfasst, sondern ein Tagebuch über den Prozess des Sterbens und des Schreibens.
    Wolfgang Herrndorf: "Arbeit und Struktur", Rowohlt Berlin, 448 Seiten, 19,95 Euro.