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Wolfgang Ischinger
"Welt in Gefahr"

Dass Deutschland mehr Verantwortung in der internationalen Sicherheitspolitik übernehmen müsse, das hat Wolfgang Ischinger schon mehrfach betont. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz sieht sein Anliegen umso dringlicher, je weniger verlässlich das transatlantische Bündnis zu sein scheint.

Von Marcus Pindur | 08.10.2018
    Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger
    Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger (dpa/Sven Hoppe)
    Dafür, dass Wolfgang Ischinger dieses Buch erst gar nicht schreiben wollte, ist es ziemlich umfassend und auf jeden Fall sehr analytisch geworden. Ein Ausgangspunkt der Überlegungen des ehemaligen Spitzendiplomaten ist dabei eine von ihm – und übrigens auch vielen anderen Experten – konstatierte tiefe Lücke in der deutschen politischen Kultur. Außenpolitik mit ihren vielen oft unbequemen, moralisch nicht eindeutig zu verortenden und anstrengenden Themen wird bei uns als Diskussionsthema eher gemieden.
    Und damit ist Ischinger beim zweiten Ausgangspunkt: Wir stehen, so ist der jetzige Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz sicher, vor einem Epochenwandel. Die Bocksprünge des amerikanischen Präsidenten Trump sollten den Europäern und besonders den Deutschen klarmachen, dass sie sich nicht auf alle Ewigkeit auf die amerikanischen Sicherheitsgarantien verlassen können, sondern einen höheren Eigenbeitrag leisten müssen.
    "Es kann nicht dauerhaft politisch tragfähig sein, dass 500 Millionen wohlhabende Europäer wesentliche Teile ihrer Sicherheit an den atlantischen Partner auf der anderen Seite des Ozeans outsourcen. Insofern müssen wir das Thema Sicherheit energischer in die eigene Hand nehmen [...]. Europa muss handlungsfähiger werden, mit einer Stimme sprechen und sich zu einer Verteidigungsunion weiterentwickeln."
    Alte außenpolitische Muster greifen nicht mehr
    Nach dem Ende der Sowjetunion hätten sich die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit in Illusionen gewiegt. Es gab eben kein "Ende der Geschichte", wie der ehemalige amerikanische Diplomat Francis Fukuyama es nannte. Der Sieg der liberalen Demokratie und der wie auch immer ausgestalteten freien Marktwirtschaft sei eben nicht irreversibel gewesen. Der Traum von 1990, dass mit dem Ende der deutschen Teilung eine Russland einbeziehende euro-atlantische Sicherheitsarchitektur entstehen würde, so Ischinger, sei zerstoben. Das heiße besonders für Deutschland, man sei ins kalte Wasser geworfen worden.
    "Die Bundesrepublik Deutschland muss also jetzt mit der Tatsache umgehen, dass sie erwachsen geworden ist, dass sie auf eigenen Beinen stehen muss, dass sie selbst für sich verantwortlich sein muss. Und das sie ihre Sicherheit, oder wenigsten wesentlich Teile ihrer Sicherheit nicht mehr verlässlich an den großen Vetter auf der anderen Seite des Atlantiks outsourcen kann. Das ist die Lage und damit müssen wir umgehen."
    An drängenden außenpolitischen Fragen mangele es nicht. Russland verletze die Basis der europäischen Sicherheitsarchitektur und unterminiere die liberalen Demokratien. Welche Konsequenzen müsse man ziehen aus der Tatsache, dass die USA nicht mehr bereit sind, die Kosten der Aufrechterhaltung der globalen Ordnung weitgehend im Alleingang zu schultern, fragt Ischinger.
    "Die Bundesrepublik Deutschland muss sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir in einer volatilen globalen und auch Europa umfassenden schwierigen Situation sitzen. Innerhalb der Europäischen Union gibt’s Bruchstellen. Denken Sie nur an Brexit und die osteuropäischen Probleme. Im transatlantischen Bündnis gibt es erhebliche Bruchstellen. Denken Sie nur an die wirklich außerordentlich schädlichen Bemerkungen des amerikanischen Präsidenten im Zusammenhang mit dem nordatlantischen Bündnis im letzten und in diesem Jahr."
    Darüber müsse eine breite öffentliche Debatte geführt werden, damit nicht "falsche Propheten" (S.277) dominierten, die lieber den Zustand der Welt beklagten, als tatsächlich etwas zu unternehmen. Nationale Abkapselung sei für die Exportnation Deutschland ein sicherer Weg in den Bankrott. Ischinger versteht seine weitreichende Analyse der internationalen Beziehungen und der deutschen Interessen als einen solchen Debattenbeitrag. Kaum ein Land habe so viel von Globalisierung und der liberalen Weltordnung profitiert wie Deutschland. Der Aufstieg Deutschlands nach 1945 zu einem damals ungeahnt wohlhabenden Land war eben keine Selbstverständlichkeit, sondern beruhte auf dieser Pax Americana.
    Ischinger ist ein Europa-Integrationist
    Bei aller Mahnung zu mehr Selbständigkeit der Europäer im transatlantischen Bündnis warnt Ischinger deshalb vor einfachen Antworten, etwa der Forderung nach einer Komplett-Abnabelung von den USA. Die Europäer könnten nicht auf die amerikanische Sicherheitsgarantie verzichten. Russland und China seien keine verlässlichen Partner, sondern strategische Konkurrenten. Und: In den USA gebe es eben nicht nur Trump-Wähler, sondern auch eine robuste demokratische, zivilgesellschaftliche Kultur, mit der man auf allen Ebenen im Gespräch bleiben müsse.
    Was aber ist konkret zu tun? Ischinger ist ein Europa-Integrationist, und er fordert eben mehr Europa, auf allen Ebenen, besonders in den Bereichen Außenpolitik, Verteidigung und Sicherung der europäischen Grenzen.
    Die Deutschen profitierten überproportional von der europäischen Integration, so Ischinger, und das müssten wir uns etwas kosten lassen. Investitionen in Bildung und soziale Sicherheit seien nötig, wie der französische Präsident Macron sie gefordert habe.
    Die EU sei ein Zukunftssicherungsprojekt, so auch Ischinger. Die permanente Forderung, dass Europa nicht mehr kosten dürfe, sei falsch.
    "Ich will es mal ein bisschen brutal formulieren: Was haben wir denn von der schwarzen Null, die eine wunderbare prinzipielle Zielvorstellung ist, wenn uns die EU kurz-, mittel- oder langfristig um die Ohren fliegt? Wir müssen in die europäische Zukunft investieren. Und wenn die Bundesrepublik Deutschland da nicht als der Größte und Dickste vielleicht gemeinsam mit Frankreich und anderen vorangeht, dann wird daraus nichts werden."
    Voraussetzung sei aber, dass sich in Deutschland eine strategische Kultur entwickele, die sowohl werte- als auch interessengeleitet sei. Realismus tue dabei not: Denn ohne militärische Machtmittel bleibe Diplomatie saft- und kraftlos, so der langjährige Berufsdiplomat. Abschreckung ist friedenserhaltend und bezieht daraus auch ihre moralische Legitimation.
    Man spürt in jedem Satz dieses Buches, dass hier ein Mann der diplomatischen Praxis schreibt. Auch, wer Ischinger nicht an jeder Wegbiegung folgen mag, wird dieses Buch mit großem Gewinn lesen. Die Dilemmata und Zielkonflikte jeglichen politischen Handelns werden stets anschaulich beschrieben, ohne dass Ischinger sich vor klaren Bekenntnissen drückt. Der Autor schreibt klar, verständlich, flüssig und interessant. Das Buch Ischingers ist ein sehr gelungener Debattenbeitrag zu den Herausforderungen deutscher Außenpolitik. Angesichts dieser Herausforderungen muss Deutschland dazu lernen, und das schnell.
    Wolfgang Ischinger: "Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten",
    Econ Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.