Donnerstag, 25. April 2024

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Wolfgang Leonhard:
Die Revolution entlässt ihre Kinder

Er war der letzte Zeitzeuge aus dem kommunistischen Führungskreis, der die Gründung der DDR vorbereitet hatte. Der Historiker und Russlandexperte Wolfgang Leonhard ist am Wochenende im Alter von 93 Jahren gestorben. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Bestseller aus dem Jahr 1955: "Die Revolution entlässt ihre Kinder". Die Abrechnung eines Insiders mit dem Stalinismus.

Von Karl Wilhelm Fricke | 18.08.2014
    Meine Anmerkungen zu Wolfgang Leonhard beginnen mit einer kuriosen Erinnerung. Es war im Großen Saal des Obersten DDR-Gerichts 1956 während des gegen mich geführten Strafprozesses – angeklagt wegen sogenannter "Boykotthetze" im Sinne von Artikel 6 der DDR-Verfassung. In der Beweisaufnahme fragte mich der Vorsitzende des 1. Strafsenats Walter Ziegler zu meiner Verwunderung: "Warum haben Sie eigentlich unter dem Pseudonym Wolfgang Leonhard veröffentlicht?"
    Das sei kein Pseudonym – erwiderte ich irritiert und begann in Stichworten Leonhards Vita zu umreißen. Ziegler winkte bekümmert ab. "Lassen Sie mal ... Es genügt". Die merkwürdige Verwechselung beruhte auf dem Umstand, dass Wolfgang Leonhard in den 50er-Jahren ebenso wie ich im "SBZ-Archiv" – heute "Deutschland Archiv" – publiziert hatte.
    Die Anekdote hat den Vorzug, wahr zu sein. In dem Prozess war ich rechtsstaatswidrig zu Zuchthaus verurteilt worden. 1959 wieder frei, hatte ich erneut eine vorerst nur virtuelle Begegnung mit Wolfgang Leonhard. Sein Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" war in der Zwischenzeit erschienen. Mein späterer Verleger Berend von Nottbeck schenkte es mir nach meiner Rückkehr in die Freiheit. "Das müssen Sie unbedingt lesen", meinte er. Ich las es und war von der Lektüre, der ersten nach meiner Gefängniszeit, fasziniert. Leonhard hatte Kritik am Stalinismus von links artikuliert.
    "Bei dem im stalinistischen System aufgewachsenen, in seiner Ideologie erzogenen Funktionär beginnt die Opposition vom marxistischen Standpunkt aus, als Verteidigung der Lehren von Marx, Engels und Lenin gegen die Verfälschungen des Stalinismus."
    Erstmals hatte ein ehemaliger Moskau-Kader der KPD, ein prominenter Genosse der SED, einer der engsten Mitarbeiter des Parteichefs Walter Ulbricht, mit der Partei gebrochen und in einem Buch mit Stalin und seinen Verbrechen abgerechnet. Das Insiderwissen aus dem inneren Führungskreis der SED, das er ausgebreitet hatte, war sensationell. Zum geflügelten Wort wurde das von ihm überlieferte Zitat Ulbrichts, das seiner Philosophie der Machtdurchsetzung gleichkam.
    "Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben."
    Im Blick zurück kann der Einfluss, den Leonhards Enthüllungen auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und der SED vornehmlich in den 50er- und 60er-Jahren genommen hat und partiell bis heute nimmt, gar nicht hoch genug veranschlagt werden. "Die Revolution entlässt ihre Kinder" wurde ein politischer Bestseller, übersetzt in mehr als ein Dutzend Sprachen.
    In der DDR blieb das Buch bis 1989 verboten. Sein illegaler Besitz wurde strafrechtlich geahndet. Als die "Iswestija" 1988 im Zeichen von "Glasnost" Auszüge daraus und ein Interview mit Leonhard druckte, beschwerte sich Hermann Axen, damals Politbüromitglied und ZK-Sekretär der SED, in Moskau ob dieser - ich zitiere - "uns völlig unbegreiflichen und nicht zu billigenden Veröffentlichung". Einmal Parteifeind – immer Parteifeind.
    Zu Zeiten Erich Mielkes war dies für Wolfgang Leonhard mit einer realen Gefährdung verbunden. Jahrelang lebte er in der durchaus begründeten Furcht vor einer Entführung in die DDR. Sie war, wie Stasi-Akten belegen, "operativ vorbereitet". Er wäre nicht der erste abtrünnige Genosse gewesen, der nach seiner Flucht geächtet und aus dem Westen zurückgeholt wurde.
    "Die Revolution entlässt ihre Kinder" blieb indes ein singulärer Erfolg – so unwiederholbar wie die Geschichte gewordene Revolution, die 1917 die Welt erschütterte und deren Kinder sich in der Ära Stalin entlassen fanden.
    Buchinfos:
    Wolfgang Leonhard: "Die Revolution entlässt ihre Kinder", Verlag Kiepenheuer & Witsch, 704 Seiten, Preis: 12,99 Euro, ISBN: 978-3-462-03498