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Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 - Frankreich 1871 - Deutschland 1918.

Was heute wie ein Sieg aussieht, kann morgen schon zur Niederlage werden. Hehre Kriegsziele verwandeln sich in Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Schon in Vietnam wurde die Freiheit verteidigt, auch die Freiheit Westberlins, wie damals in uneingeschränkter Solidarität von Berliner Politikern aller Farben dramatisch behauptet wurde, am Ende könnte das Belastungsmaterial gegen Henry Kissinger ausreichen, um ihn neben anderen Zeitgenossen auf die Anklagebank eines Internationalen Strafgerichtshofes zu setzen, den die USA aus guten Gründen zu verhindern versuchen. Unter welchen Bedingungen aber kann man aus Niederlagen lernen?

Katharina Rutschky | 26.11.2001
    Was heute wie ein Sieg aussieht, kann morgen schon zur Niederlage werden. Hehre Kriegsziele verwandeln sich in Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Schon in Vietnam wurde die Freiheit verteidigt, auch die Freiheit Westberlins, wie damals in uneingeschränkter Solidarität von Berliner Politikern aller Farben dramatisch behauptet wurde, am Ende könnte das Belastungsmaterial gegen Henry Kissinger ausreichen, um ihn neben anderen Zeitgenossen auf die Anklagebank eines Internationalen Strafgerichtshofes zu setzen, den die USA aus guten Gründen zu verhindern versuchen. Unter welchen Bedingungen aber kann man aus Niederlagen lernen?

    Am Anfang aller abendländischen Niederlagen stehe der Fall Trojas, schreibt Wolfgang Schivelbusch in seinem neuesten Buch. Den Griechen habe der Sieg wenig gebracht, das untergegangene Troja jedoch sei durch das Entkommen des Äeneas und der Seinen zum römischen Gründungsmythos, zum Nationalepos geworden. Untergangs- und Neugründungsmythos seien eine der vielen Gestaltungen von Kampf, Tod und Wiedergeburt und ihrer zyklischen Verbindung, wie sie sich in allen Weltkulturen fänden. Schivelbusch, Literaturwissenschaftler, Philosoph und Soziologe mit methodischem Interesse für die Psychoanlayse bei seinen historischen Forschungsreisen, hat seinen Blick ganz unabhängig von aktuellen politischen Debatten der Kultur der Niederlage zugewendet. Er hat zur Erläuterung seiner Theorie über den Erkenntnisgewinn aus der Niederlage drei historische Beispiele gewählt: den amerikanischen Süden 1865, Frankreich 1871 und Deutschland 1918. Dennoch ist Schivelbuschs Buch voller aktueller Bezüge.

    Kulturen werden gegenwärtig viele ausgerufen, von der Hegemonial- über die Streit-, die Jugend- bis hinab zur Kneipenkultur, ohne dass man so recht weiß, auf welche Erkenntnis die Inflation der Kulturen am Ende hinausläuft. Anders geht es dem Leser mit dem neuen Buch von Wolfgang Schivelbusch, der die Kultur der kriegerischen Niederlage mit drei Fallstudien auf das Niveau eines einprägsamen Gestaltschemas hebt. Grob skizziert sieht dieses Schema so aus, dass 1. der Sieger in Gefahr ist, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, wohingegen der Besiegte 2. motiviert ist, aus der Niederlage zu lernen und damit längerfristig die Niederlage in Erfolge umzumünzen. 3. verharren Kriegsparteien, lange nachdem die Waffen scheinbar eindeutig gesprochen haben, in einer Art Beziehungsclinch, der bestenfalls zu einem kompromisslerischen Umgang mit den jeweiligen Kriegszielen führt und schlimmstenfalls zu einem neuen Krieg. Die heutige Weltlage legt es nahe, Schivelbuschs Schema auf die prekäre Situation der USA als einzig verbliebene Großmacht und den Westen insgesamt als scheinbar unwiderstehlich agierenden Protagonisten des technischen, ökonomischen und humanen Fortschritts zu übertragen. Globalisierung heißt ja nichts anderes, als dass die westlichen Erfolge samt ihren Kosten nun als Vorgabe für alle fungieren sollen. Und es auch tun, wie die Beteiligung Osama bin Ladens am internationalen Finanzmarkt, die Verbreitung der Waffentechnik weltweit, aber auch die Attraktivität von Fernsehen und MacDonald's zu beweisen scheinen.

    Natürlich hat Schivelbusch, der unorthodoxe Historiker, der als freier Autor seit Jahrzehnten in New York lebt, an solche politischen Anschlüsse nicht gedacht. Aber es zeichnet ja brillante Autoren aus, dass sie, ohne dogmatisch zu werden und die Regeln des Handwerks gröblich zu verletzen, dem Leser Horizonte eröffnen, die über die Bildung von Wissen, der Information, wie es damals gewesen ist, um Ranke zu paraphrasieren, hinausgehen.

    Schivelbusch hat das Gestaltschema der Kultur der Niederlage an drei Beispielen, Fallgeschichten könnte man sie nennen, gewonnen und plausibel gemacht. Eine Art Resümee zieht er schon im einleitenden Kapitel, dessen Lektüre aber die der folgenden keineswegs überflüssig macht. Das Schema, mit weitläufigen Exkursen in die Historie und die Psychologie bestückt, erübrigt in diesem Fall eben nicht die Lektüre der einlässlich aus der enormen Literatur der Fälle gewonnenen Darstellung. Sein erstes Beispiel: der Bruderkrieg der us-amerikanischen Staaten, der vornehmlich um die Frage der Rechtmäßigkeit der Sklaverei und um die Union geführt wird. Bekanntlich unterlagen die Südstaaten, obwohl sie in mancher Hinsicht moderner waren als der Norden, und dieser nach dem Sieg alles tat, die Rechte der befreiten Neger, um die es doch auch gegangen war, klein zu halten. Letztlich versöhnten sich beide Parteien in der bis heute populären Verklärung des aristokratischen Südens und seiner großzügigen Lebensweise, etwa so, wie sie Hollywood in dem Film "Vom Winde verweht" gezeigt und in die Folklore eingeschrieben hat. Als Bruderkrieg bot der amerikanische Bürgerkrieg darüber hinaus Chancen zu einer emotional befriedigenden Versöhnung im Schoß der großen amerikanischen Nation.

    Schivelbuschs zweites Beispiel betrifft die Niederlage Frankreichs im Krieg gegen das Deutsche Reich unter Bismarck. Denkt man über diese Niederlage nach, die neben erheblichen Reparationen und dem Verlust Elsass-Lothringens ja auch noch einher ging mit dem Ende des französischen Kaiserreichs, der Ausrufung der Republik und der Pariser Commune, dann fragt man sich schon, wie es möglich war, diese Niederlage in eine Erfolgsgeschichte umzumünzen. Nur drei Punkte seien hervorgehoben. Während "Sedan" das ruhmlose Ende Napoleons III. bezeichnete, sprang die junge Republik in die Bresche. Zwar konnte sie die Niederlage nicht abwenden, vermied aber den Ruch des Kapitulanten hinter der Front.

    Der republikanische Neubeginn machte die Anerkennung der Niederlage und die Betrachtung der Gründe leichter, die zu ihr geführt hatten. Die Behauptung, dass bei Sedan der preußische Volksschullehrer gesiegt hatte, minderte zum Beispiel die Kränkung der nationalen Ehre, wurde aber auch zum Anlass einer gründlichen Reform des Schulwesens genommen. Es gelang, die Idee der Revanche aus einer unmittelbar nationalistischen, militaristischen in eine mittelbare vom Wachsen und Lernen zu verwandeln, an der selbst die Rechte mit ihrer Bewunderung alles Deutschen einen Anteil hatte.

    Gewisse Parallelen zur Lage Deutschlands 1918 drängen sich auf. Nur dass die Niederlage des kaiserlichen Deutschland nicht in eine Erfolgsgeschichte verwandelt werden konnte. Man könnte Schivelbusch gelegentlich als Erforscher von Mentalitäten einordnen, als einen, der die traditionelle Geschichtsforschung um kulturhistorische, psychologische Aspekte ergänzt. Aber so einfach macht es uns dieser souveräne und elegante Schriftsteller nicht. Die so verhängnisvolle Dolchstoßlegende führt er letztlich auf eine Person zurück. Ludendorffs hysterische Kehrtwendung von 1918 - erst kapitulieren, dann weiter kämpfen - markiert für Schivelbusch den Anfang einer verhängnisvollen Konfusion auch bei den demokratischen Erben des Kaiserreichs. Im Felde unbesiegt - daheim verraten. Die Niederlage konnte nicht anerkannt werden, die Freude über das Ende der permanenten Todesdrohung und den Neuanfang der deutschen Republik wurden wirksam. Schivelbusch wurde zwar von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und vom Max-Planck-Institut für Geschichte unterstützt, es ist aber vorauszusehen, dass dieses neue und überraschend politische Werk des Autors, anders als mit seinen früheren Büchern, die sich als kulturgeschichtliches Beiwerk ablegen ließen, auf wenig Beifall bei orthodoxen Historikern stoßen wird. Ein idealer Leser wäre wohl der Systemtheoretiker Niklas Luhmann gewesen. So detailversessen Schivelbusch auch ist, Sieg und Niederlage nicht als solche zu akzeptieren, sondern sie als ein Systemproblem zu analysieren, und darauf läuft sein Buch letztlich hinaus, das hätte Luhmann gefallen müssen. Der Sieger ist gefährdet, dem Besiegten gehört die Zukunft.

    Katharina Rutschky besprach "Die Kultur der Niederlage" von Wolfgang Schivelbusch. Es ist im Alexander Fest Verlag erschienen, hat 464 Seiten und kostet 69,34 DM.