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Wolfgang Thierse (SPD)
"Neudeck hat für das Image seines Landes sehr viel getan"

Der verstorbene "Cap Anamur"-Gründer Rupert Neudeck habe mit seinem Engagement das gesellschaftliche Klima in Deutschland verändert, sagte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Deutschlandfunk. Durch seine Hartnäckigkeit hätten Bürger auf andere Teile der Welt geblickt, statt in ihrem "behaglichen Egoismus" zu verharren.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Christiane Kaess | 01.06.2016
    Thierse erzählt dem neben ihm stehenden Neudeck etwas, der konzentriert zuhört.
    Thierse und Neudeck bei einem Treffen im Jahr 2000 in Berlin. (Jens Kalaene / dpa)
    Thierse sagte, Neudeck und er hätten sich vor fast 50 Jahren kennengelernt. "Damit begann eine Freundschaft, die geprägt war von vielen intensiven politischen Diskussionen." Der Gründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Grünhelme" habe sehr viel für Deutschland getan. Ihm sei es mit zu verdanken, dass die Bundesrepublik das Image eines "anständigen, menschenfreundlichen Landes hat".
    Der SPD-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident betonte, Neudeck habe "durch seine Aktivitäten, durch seine Hartnäckigkeit, durch sein ständiges Insistieren darauf, dass wir die Pflicht haben, anderen Menschen in Not zu helfen, glaube ich, das Klima in diesem Land auch durchaus verändert". Statt in einem behaglichen Egoismus zu verharren und sich auf die Pflege des Wohlstands zu konzentrieren, sei der Blick auf andere Teile der Welt gewandert.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Leitfigur, Vorbild, sogar Heiliger - voller Bewunderung haben sich Politiker und Weggefährten über den verstorbenen Rupert Neudeck geäußert. Der Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur hat Tausenden Menschen das Leben gerettet und sich bis zuletzt für Flüchtlinge engagiert. Gestern ist er im Alter von 77 Jahren an den Folgen einer Herzoperation gestorben. Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel, sie würdigten heute das Vorbild für Mitmenschlichkeit.
    Eng befreundet mit Rupert Neudeck war Wolfgang Thierse von der SPD, früherer Bundestagspräsident. Vor wenigen Minuten konnte ich mit ihm sprechen und ich habe ihn zuerst gefragt, wie ihn gestern die Nachricht des Todes von Rupert Neudeck erreicht hat.
    Wolfgang Thierse: Ja, im Radio habe ich sie gehört und war vollkommen erschrocken. Ich wusste, dass er nicht ganz gesund ist, aber dass er so plötzlich stirbt und als Folge einer Herzoperation, das ist schon entsetzlich.
    Kaess: Wie haben Sie ihn kennengelernt?
    Thierse: Vor vielen Jahren. Vor fast 50 Jahren hatte er auf einen Tipp von Freunden uns aufgesucht, mich aufgesucht, und damit begann eine Freundschaft, die geprägt war durch viele intensive politische Diskussionen, durch seine Berichte über sein Engagement. Er hat uns immer wieder besucht, die wir etwas eingesperrter als er in Ostberlin lebten.
    "Er hat das Klima in diesem Land verändert"
    Kaess: Sie haben einen Freund verloren. Welche Lücke hinterlässt Rupert Neudeck gesellschaftlich und politisch?
    Thierse: Ja das kann man schwer beschreiben. Er hat durch seine unerhörten Aktivitäten Cap Anamur, die Grünhelme, sein ausdauernder hartnäckiger Einsatz für andere Menschen in Not, die auf der Flucht sind, für das Image dieses Landes sehr viel getan. Dass Deutschland heute den Ruf eines anständigen, menschenfreundlichen Landes hat und nicht nur den Ruf, gut Fußball spielen zu können und gute Autos zu bauen, das hat auch ganz wesentlich mit ihm zu tun. Und er hat durch seine Aktivitäten, durch seine Hartnäckigkeit, durch sein ständiges Insistieren darauf, dass wir die Pflicht haben, anderen Menschen in Not zu helfen, glaube ich, das Klima in diesem Lande auch durchaus verändert, weg vom behaglichen Egoismus, von Pflege unseres Wohlstands hin zum Blick auf andere, auf andere Teile in der Welt.
    Kaess: Sie haben ihn ja sehr gut gekannt. Was würden Sie sagen hat Ihn so stark gemacht, dieses Engagement auch so lange durchzuhalten?
    Humanitäres Engagement gemeinsam mit seiner Frau Christel
    Thierse: Ich glaube, zunächst war es die eigene Lebenserfahrung. Er hat das ja oft genug erzählt. Das Glück, dass er nicht auf der Gustloff war, also nicht mit einem Schiff untergegangen ist, das Flüchtlinge aus Danzig wegbrachte, diese Erfahrung hat ihn geprägt. Dann ganz besonders und stark sein christlicher, sein katholischer Glaube, der ihn verpflichtete, gewissermaßen wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter immer zu fragen, wem habe ich der Nächste zu sein. Das war eine Motivation. Und natürlich, das darf man nicht vergessen, all die Unternehmungen waren Unternehmungen nicht nur von ihm, sondern auch mit seiner Frau Christel Neudeck. Sie zusammen haben dieses humanitäre Engagement organisiert, getragen, durchgehalten.
    Kaess: Er hat sich ja in der aktuellen Flüchtlingspolitik auch immer wieder zu Wort gemeldet und war so etwas wie ein Mahner. War er in dieser Form eine Einzelstimme?
    Thierse: Es gibt nicht so viele seines Gleichen. Er hat herausgeragt. Gerade im Deutschlandfunk konnte man ihn ja immer wieder hören von den verschiedensten Stellen in der Welt. Er reiste hin, wo Konflikte waren, wo Opfer zu beklagen waren, um festzustellen, können wir helfen, müssen wir helfen. Er hat das auch immer geprüft. Es ging ja immer auch darum, dass man nicht leichtsinnig etwas in Angriff nimmt, sondern dass man tatsächlich auch dort Projekte verwirklichen kann.
    Kaess: Er war aber auch nicht unumstritten. Das muss man auch sagen. Für manche war er kompromisslos oder sogar autoritär. Wie passt das zusammen mit seinem Engagement?
    Rupert Neudeck, Grünhelme, am 9.8.2014
    Rupert Neudeck, Grünhelme (dpa / picture-alliance / Daniel Reinhardt)
    Thierse: Autoritär war er nicht. Ich habe ihn nie so erlebt. Ich fand immer, er sei ein Ausbund von Bescheidenheit in seiner Lebensführung. Aber er war natürlich energisch, wenn es um die Durchsetzung von Projekten ging. Ich weiß auch, das hat ihn manchmal sehr getroffen, dass er kritisiert wurde für sein humanitäres Engagement. Manche haben ihm vorgeworfen, dass er sich zu sehr in den Medien nach vorne spielt. Aber wie soll das anders gehen? Man kann nur Unterstützung gewinnen, man gewinnt nur Spenden, wenn man über die Projekte öffentlich redet, und das gehörte ja auch zu ihm. Er sagte, ich hätte das alles nicht machen können, wenn es nicht so viele Menschen in Deutschland gegeben hätte, die gespendet haben, die ihn tatkräftig unterstützt haben, die Lebenszeit und Lebenskraft für humanitäre Aktionen zur Verfügung gestellt haben. Er hat sogar gesagt, wir können stolz sein auf dieses Land und auf dieses Volk, in dem es so viel humanitäres Engagement gibt, so viel Spendenbereitschaft, mehr als wahrscheinlich in manchen anderen Ländern der Welt.
    Kaess: Zum Tod von Rupert Neudeck war das Wolfgang Thierse von der SPD, früherer Bundestagspräsident. Danke schön, Herr Thierse.
    Thierse: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.