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Wolfgang Thierse (SPD) zur Flüchtlingspolitik
"Nicht wie Rechtspopulisten das Wildeste versprechen"

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sieht in der Integration eine doppelte Aufgabe für die Politik. Zum einen müssten Flüchtlinge die Chance bekommen, hier heimisch zu werden. Gleichzeitig dürfe Deutschland den Einheimischen nicht fremd werden, sagte Thierse im DLF. Die Rechtspopulisten machen es sich aus seiner Sicht zu leicht.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Bettina Klein | 07.09.2016
    Wolfgang Thierse bei einer Rede
    Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (dpa / Andreas Gebert)
    Thierse sprach in diesem Zusammenhang von einer "riesigen Aufgabe". Jeder wisse, dass es dabei auch um Begrenzung gehe. Wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel dies jetzt ausspreche, sei das keine Kehrtwende, so Thierse: "Politiker wären dumm, wenn sie nicht lernen würden und nicht auch ihre Positionen verändern würden, angesichts einer sich verschärfenden Problematik", so Thierse.
    Mit Blick auf die Wahlerfolge der AfD sagte Thierse, man dürfe nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Es sei unübersehbar, dass eine Menge Menschen ängstlich und verunsichert seien. Daran würden Rechtspopulisten anknüpfen.
    Aufgabe der demokratischen Politiker sei es klarzumachen, dass sie die Probleme der Menschen kennen und versuchen, realistische Antworten zu finden. Man könne das nicht wie die Rechtspopulisten machen, die "das Wildeste versprechen". Demokratische Politik könne keine Wunder vollbringen, sondern sei langsam und mühselig und stecke voller Kompromisse: "Das ist das Wesen von Demokratie und das ist das Wesen von friedlichem Zusammenleben."

    Bettina Klein: Wer steht noch zur Kanzlerin in diesen Tagen? Die SPD offenbar nicht mehr so ganz, wenn man die Äußerungen der vergangenen Tage so zusammenzählt. Nach dem guten Abschneiden der AfD in Mecklenburg-Vorpommern hagelte es erneut Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik, und zwar nicht nur vonseiten der CSU. Es geht aber auch viel um Emotionen dieser Tage im Land, um Protest. Es geht um "ihr da oben, wir hier unten". Müssen die großen Parteien diese Sorgen und Empfindungen ernst nehmen und wenn ja wie, und wie können sie das tun, wenn sie Positionen der AfD gar nicht übernehmen wollen? - Über all das können wir jetzt sprechen mit dem langjährigen SPD-Politiker Wolfgang Thierse. Er war Bundestagspräsident und Bundestags-Vizepräsident zuletzt. Guten Morgen, Herr Thierse.
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Ich würde, da Sie auch lange im Geschäft waren für die Sozialdemokraten, gerne mal beginnen mit der Strategie der Partei jetzt im Augenblick. Manche wundern sich ja doch, dass die SPD unter Vizekanzler Gabriel eigentlich von Anfang an die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin mitgetragen hat und auch vor einem Jahr an der Generaldebatte ganz streng an ihrer Seite stand. Heute klingt das ein bisschen so, als hätte man damit eigentlich gar nicht viel zu tun. Wie wirkt das auf Sie?
    "Es geht nicht um Nibelungentreue gegenüber der Kanzlerin"
    Thierse: Ich glaube, der letztere Satz stimmt nicht. Die SPD stiehlt sich ja nicht aus der Verantwortung. Aber es geht auch nicht um Nibelungentreue gewissermaßen gegenüber jeder Äußerung von der Kanzlerin. Ich sage es mal etwas grundsätzlicher: Was heißt eigentlich Integration, um die riesige Herausforderung zu beschreiben? Integration ist nach meiner Überzeugung eine doppelte Aufgabe. Diejenigen, die zu uns gekommen sind und hier bleiben wollen, die sollen die Chance zur Teilhabe in diesem Lande haben. Denen soll das Land heimisch werden. Und den Einheimischen - das ist die andere Seite der Aufgabe - soll das Land nicht fremd werden. Beides muss man im Blick haben und das ist genau die Position der Sozialdemokratie.
    Es geht darum, um menschenfreundliche Aufnahme von Flüchtlingen, die aus Not und Krieg kommen, aber es geht auch darum, dass diejenigen, die in diesem Lande leben und sich als Benachteiligte empfinden, als Zurückgesetzte, dass die nicht den Eindruck haben, um uns kümmert sich keiner mehr. Integration ist eine immense Aufgabe auch von sozialer Gerechtigkeit, und wenn die Sozialdemokraten daran erinnern, ist das nicht Absage an eine menschenfreundliche Flüchtlingspolitik, sondern dann ist es die realistische Wahrnehmung dieser riesigen Integrationsaufgabe.
    Klein: Aber ein bisschen Schwenk nimmt man ja schon wahr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass vor einem Jahr etwa noch so etwas wie Obergrenzen oder gar Kontingente wirklich abgelehnt wurden. Inzwischen spricht Sigmar Gabriel davon, ohne aber - vielleicht wäre das ja richtig - dazu zu sagen: Augenblick! Wir haben vor einem Jahr auch noch nicht alles richtig überblickt und korrigieren daher unsere Position. Das wäre ja doch auch ein Stück weit der Redlichkeit geschuldet, oder?
    "Je größer die Zahl der Flüchtlinge, umso größer das Problem ihrer Integration"
    Thierse: Ja, Sie sagen es. Keine Partei und kein Mensch ist verpflichtet, immer wieder dasselbe zu sagen und zu meinen. Und jeder einigermaßen seriöse Politiker weiß doch, dass je größer die Zahl der zu uns Kommenden, der Flüchtlinge ist, umso größer das Problem ihrer Integration.
    Deswegen weiß jeder, es geht um Begrenzung, die vernünftig, die menschenfreundlich, die rechtlich einwandfrei, die politisch durchsetzbar ist. Darum geht der Streit und er ist unausweichlich, und auch die Sozialdemokraten fechten ihn aus und sagen dabei, das ist der polemische Moment: Man kann dieser Problematik, dieser Frage nicht ausweichen durch die ständige Wiederholung des berühmten Satzes von Frau Merkel.
    Klein: Aber, Herr Thierse, das Wort "Begrenzung", das klang ja vor einem Jahr noch wie ein Unwort. Das wurde damals nur benutzt von der CSU und wurde von der Sozialdemokratie tatsächlich zurückgewiesen. Müsste man nicht diese Kurskorrektur klarer kenntlich machen im Augenblick?
    Thierse: Aber entschuldigen Sie! Das ist ein eigentümlicher Vorwurf. Sigmar Gabriel hat darüber, über diese doppelte Aufgabe, den Blick auf die Einheimischen und ihre Ängste und Probleme, immer wieder wiederholt. Und er sagt es jetzt wieder! Manche Journalisten haben ein schlechtes Gedächtnis, die sagen, das sei plötzlich eine Kehrtwendung. Ist es gar nicht! Dass man dazulernt und die Probleme realistischer sieht, weil sie vor einem Jahr noch nicht wahrnehmbar waren, das sollte man Politikern nicht vorwerfen.
    Politiker wären dumm, wenn sie nicht lernen würden und nicht auch ihre Positionen verändern würden, angesichts einer sich verschärfenden Problematik.
    Klein: Okay! Wir halten fest: Es geht um dazulernen. Und vielleicht wäre es an der einen oder anderen Stelle wünschenswert, das auch noch mal klarer zu sagen, wie Sie das gerade auch getan haben. Es geht um ein Dazulernen.
    Ich würde gerne mit Ihnen trotzdem noch mal darüber sprechen. Das eine ist die Gratwanderung, über die wir ja auch seit Monaten sprechen. Es gilt, die Sorgen und Ängste der Menschen ernst zu nehmen. So heißt es auf der einen Seite. Die Sorgen und Ängste sind jetzt deutlich artikuliert worden im Zuge eines Wahlergebnisses, wo die AfD zur zweitstärksten Kraft geworden ist. Wie nimmt man die Sorgen und Ängste dieser Menschen ernst, ohne - und das will man ja offensichtlich nicht - die Positionen der AfD zu übernehmen?
    Thierse: Erstens finde ich es sehr richtig, Sie haben das einleitend gesagt: Wir sollten nun nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren und nur noch über die AfD reden, als würden wir nicht unabhängig von Wahlerfolgen der AfD sehen können, was Menschen empfinden, wie die soziale Lage ist, welche kulturellen Probleme wir haben.
    "Wir können keine Wunder versprechen"
    Und es ist ja doch nun unübersehbar, dass es eine ganze Menge Menschen gibt, die Ängste und Verunsicherungserfahrungen gemacht haben, in Ostdeutschland im Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Dramatische ökonomische Probleme zumal in Vorpommern, im nordöstlichsten Teil Deutschlands. Die Ängste vor der Gewalt und der niederwalzenden Wirkung der Globalisierung. Ängste, wie ich das nenne, vor Verlust der Heimat, dem Vertrauten, dem Gewohnten. Dadurch entsteht so etwas wie die Sehnsucht nach dem Alten, dem Vertrauten, dem Nationalen, ein Bild dessen, wie es das vielleicht nicht gegeben hat. Das ist der Hintergrund.
    Wir müssen nicht nur über soziale Probleme reden, sondern womit wir es zu tun haben sind sicher auch kulturelle Probleme, Entheimatungsängste, Befürchtungen, dass Sicherheiten verloren gehen. Das Fremde und die Fremden rücken plötzlich nahe und das ist eine riesige Herausforderung. Das ist ein Verunsicherungspotenzial und genau da knüpfen Rechtspopulisten an, und wir können nur als demokratische Politiker darauf antworten, wenn wir den Menschen sagen: Wir kennen das, wir wissen, worum es geht, und wir versuchen, politische Antworten, realistische Antworten darauf zu geben, damit ihr keinen Grund habt für Ängste, aber wir können keine Wunder versprechen.
    Klein: Wie nimmt man denn Menschen das Gefühl der Heimatlosigkeit, oder das Gefühl, die Heimat zu verlieren, ohne ihnen versprechen zu können, die Globalisierung hört jetzt auf und ihr seid hier sicher vor Einflüssen von außen?
    Thierse: Das ist genau das riesige Problem. Wir können das nicht machen wie Rechtspopulisten, das Wildeste versprechen und sagen, wir könnten die Grenzen dicht machen. Aber wir können erklären, worum es geht. Wir können die Probleme beschreiben, die Größe der Herausforderung. Wir könnten auch eine soziale Politik machen, die tatsächlich investiert in Wohnen, in Bildung, in Infrastruktur, in Forschung, also in die wirklichen Zukunftsaufgaben, damit Leute sagen, ja, Politik begreift erstens, was mit uns los ist, sie wissen es und sie tun Sachen Schritt für Schritt.
    Das ist der eigentliche Punkt, dass demokratische Politik keine Wunder vollbringen kann, sondern dass sie langsam und mühselig ist und voller Kompromisse steckt, aber genau die müssen wir erklären und sagen, das ist das Wesen von Demokratie und das ist das Wesen von friedlichem Zusammenleben.
    "Europa ist ein Gutteil der Lösung unserer Probleme"
    Klein: Was Sie jetzt alles beschreiben, Herr Thierse, das sind ja wirklich durchaus ernst zu nehmende Bedürfnisse, Sorgen, Nöte, auch wenn man sie jetzt nicht in jedem Falle gleich direkt adressieren kann. Ich würde gerne noch mal ein bisschen den Fokus öffnen, weil wir diese Stimmung ja nicht nur in Deutschland haben, auch wenn wir gerne von der "German Angst" sprechen, die sprichwörtlich geworden ist. Es gibt diese Stimmung in anderen Staaten Europas natürlich auch sehr stark. Es gibt sie auch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Was daran ist für Sie noch mal spezifisch Deutsch, oder haben wir es mit einer globalen Sorge zu tun, angesichts der Folgen der Globalisierung, die vielerorts jetzt erst zu spüren sind?
    Thierse: Ich glaube, das Letztere ist der Fall. Es gibt gar nicht so viel spezifisch Deutsches, mit dieser Ausnahme der dramatischen Veränderung und ihren Schmerzen nach der deutschen Vereinigung in Ostdeutschland, wo ja nicht nur Sieger der Geschichte leben, sondern auch Verlierer der Geschichte. Das ist ein Spezifikum. Aber sonst haben Sie vollkommen recht mit dem Hinweis auf die dramatischen Wirkungen der Globalisierung, der Entgrenzung, der Enthemmung des Finanzkapitals, der Gefährdung von Demokratie, der Ohnmacht von Politik gegenüber solchen Entwicklungen. Und deswegen glaube ich auch:
    Eine der Herausforderungen heißt, auch die Europäische Union ist ein Raum, in dem die Antwort auf diese Probleme und Konflikte der Globalisierung gegeben werden kann. National kann man dann immer nur teilweise etwas tun.
    Klein: Müsste in der Europäischen Union gegeben werden, wird aber nicht, weil wir scheitern ja zum Beispiel gerade an der Frage der Quotierung und der Aufteilung von Flüchtenden, die hier herkommen.
    Thierse: Das kommt ja noch hinzu, dass diese Art von Konflikterfahrung, von Verteilungskonflikten unangenehmster Art in Europa natürlich Menschen auch beunruhigt und sagt, wenn das nicht gelingt. Wir haben doch immer in Deutschland richtigerweise gesagt, Europa ist ein Gutteil der Lösung unserer Probleme, und jetzt erleben wir gerade bei dem Flüchtlingsthema das Gegenteil. Das ist schon beunruhigend, das finde ich auch beängstigend und ärgert mich sehr.
    Klein: Wolfgang Thierse, der langjährige SPD-Politiker und Bundestags-Vizepräsident, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Thierse.
    Thierse: Auf Wiederhören! Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.