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WorldCom, Enron und die Folgen

Eigentlich sollte die Börsenwoche ruhig zu Ende gehen nach schweren Verlusten zur Wochenmitte. Doch dann der nächste Skandal.

Werner Rügemer, Thomas Weinert | 30.06.2002
    Eigentlich sollte die Börsenwoche ruhig zu Ende gehen nach schweren Verlusten zur Wochenmitte. Doch dann der nächste Skandal.

    Schon bei den kräftigen Kursgewinnen gestern mahnten ja viele zur Vorsicht, das sei keine Trendwende, es könnte noch weitere Bilanzierungsskandale wie bei Worldcom geben und das schlimme dabei: sie sollten Recht behalten. Heute nun ist durchgesickert, auch beim amerikanischen Büromaschinenhersteller Xerox habe es milliardenschwere Fehlbuchungen in den Bilanzen gegeben.

    .. nun also noch der Vorwurf von Umsatzmanipulationen an Xerox, dabei hatte bereits am Dienstag zuvor der Worldcom Skandal die Broker entsetzt. Und nicht nur sie. Die Amerikaner fürchten um ihre Pensionsfonds und der Präsident um seine Wähler. Die Krise spitzt sich so sehr zu, dass George W. Bush gestern in seiner Rede an die Nation deutliche Worte findet. Es werde nicht zugelassen, so Bush, dass das unrechtmäßige Verhalten einiger Weniger die freie Marktwirtschaft in Frage stelle. Ein Missbrauch des öffentlichen Vertrauens werde nicht toleriert.

    The unethical actions of a few should not be allowed to question our free enterprise system. No violation of the public trust will be tolerated. The federal government will be vigilate in prosecuting wrong doers to ensure that investors and workers maintain the highest confidence in american business.

    Bush betonte, seine Regierung werde wachsam sein und Fehlverhalten ahnden, damit Investoren und die arbeitende Bevölkerung ihr Vertrauen in die amerikanische Wirtschaft behalten. Doch danach sieht es nicht aus. US Aktien verzeichneten im ersten Halbjahr 2002 ihren schärfsten Rückgang seit 30 Jahren. Und der Vertrauensverlust der Investoren hat wahrlich Hintergründe.

    Ein neuer Chef und der Wechsel der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hatten es an den Tag gebracht: Amerikas zweitgrößte Telefongesellschaft hat die Bilanzen manipuliert, damit die Anleger betrogen und die Mitarbeiter: Vorgestern begann WorldCom damit, Kündigungen an 17.000 Menschen zu verschicken. Bereits am Mittwoch erhob die amerikanische Börsenaufsicht Klage gegen das Unternehmen, die Broker der Wall Street waren erneut entsetzt, denn sie hatten mit dem Enron Skandal bereits Anlegervertrauen verloren. Die Reaktionen im Finanzdistrikt in New York waren heftig und die Schockwellen erreichten gegen Ende der Woche sogar den Weltwirtschaftsgipfel in den kanadischen Bergen. Andy Server, Wall Street Korrespondent des Magazins Fortune, sagt, alle wollten sich anscheinend nur bereichern:

    Sagen wir es doch offen, hier geht es um die nackte Gier, WorldCom sollte schöne Gewinne ausweisen, damit die Kurse hochgehen, das wollten diese Jungs erreichen, denn ihre Bezahlung hängt von steigenden Profiten und steigenden Aktien ab.

    WorldCom hatte schlicht Kosten als Investitionen verbucht, damit stieg die Finanzkraft des Unternehmens nach außen, obwohl es eigentlich Verluste hätte ausweisen müssen. Die Sache flog auf, als der neue Chef John Sidgemore auf dem Sessel von Bernard Ebbers Platz nahm, der Worldcom im Mai Hals über Kopf verlassen hatte. Das Pech dabei: Der neue Boss tauschte auch die Wirtschaftsprüfer aus, denn ein Testat von Andersen schmückt keine Bilanz mehr, seitdem das ehemalige Renommierunternehmen Andersen in den Enron-Strudel gerissen wurde. Andersens Schicksal besiegelte Mitte des Monats ein texanisches Gericht, und so sollte der Konkurrent KPMG die Geschäfte auch bei Worldcom übernehmen. Im Gegensatz zur komplizierten und immer noch nicht aufgeklärten Enron-Materie hatten die neuen Wirtschaftsprüfer bei Worldcom nicht viel Mühe. Trotz der vielen unterschiedlichen Buchungsstandards und ihrer Unübersichtlichkeit liegt für Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninstitut der Fall WorldCom offen da:

    Das ist eine ziemlich komplizierte Materie, aber das, was da jetzt passiert ist, das ist auf einer so einfachen, niedrigen, banalen Buchführungsebene passiert, dass das nach allen halbwegs anerkannten Rechnungslegungsstandards nicht hätte passieren dürfen und es wäre auch in allen Standards unangenehm aufgefallen.

    Und so fragen sich die Beobachter der Finanzmärkte, wie nach dem Enron Skandal, der vergleichsweise hoch kompliziert ist, überhaupt jemand auf die Idee kommen konnte, A mit Andersen und B mit Bilanztricks die Börsenaufsicht täuschen zu wollen:

    Also wenn an der entscheidenden Stelle jemand sitzt, der sagt, wir beurteilen diese Ausgaben pauschal als Investitionen und nicht als Aufwand, dann kann das halt vorkommen, das ist so wie der Verkehrssünder, der zu schnell fährt und der hofft nicht erwischt zu werden - die Erfahrung zeigt natürlich, dass bei der Umbucherei, bei der Bilanztrickserei die Aufklärungsquote sehr viel höher ist und früher oder später kommt es raus, das ist alles nur ein Zeitschinden, bis man zugeben muss, dass man schief liegt und deswegen sollte man es gleich bleiben lassen.

    Denn kein wirtschaftliches Thema hat die amerikanische Öffentlichkeit in den letzten Jahren so erschüttert wie der Konkurs von Enron, des bis vor kurzem fünftgrößten US-Unternehmens. In Europa wurde erst wieder im Zusammenhang mit dem Worldcom Skandal wahrgenommen, wie intensiv ein Dutzend Kongress-Ausschüsse in Washington monatelang über die Hintergründe des Enron-Konkurses diskutiert. Dieser Firmenzusammenbruch stellte nicht nur die Spielregeln der Wall Street in Frage, sondern des gesamten amerikanischen Wirtschaftssystems. Die Neue Zürcher Zeitung titelte:

    Enron – Watergate der Wirtschaft?

    Und Lou Dobbs, der Moderator von Dutzenden von Enron-Sondersendungen bei CNN, wiederholte wochenlang seinen Standardsatz:

    Die Zeit nach dem Enron-Konkurs ist eine andere als die vor dem Enron-Konkurs.

    Weit gefehlt, möchte man sagen, nach den Geschehnissen der vergangenen Woche, statt Zeitenwende eher ein Dejavu mit Auswirkungen wiederum auch hierzulande. Rolf Schneider, Volkswirt bei der Dresdner Bank:

    Wir haben derzeit ganz ohne Zweifel einen Vertrauensverlust in der Aktie und generell Unsicherheiten darüber, wie bilanziert wird und das überträgt sich natürlich auch auf die europäischen Börsen, die kleiner sind, allerdings auch sehr liquide sind und von daher aber sehr anfällig sind.

    Und so erscheint es umso wichtiger, die Unterschiede zwischen den Geschehnissen bei Enron und bei Worldcom herauszuarbeiten, um weiteren Schaden von den Finanzmärkten fernzuhalten. Als sich die Broker rund um die Welt an Enron erinnerten und mit Worldcom verglichen, da beruhigten sich die Börsen schlagartig. Die Dimensionen der beiden Konzerne sind ähnlich, die Qualität der Machenschaften ist es nicht.

    Der Finanzhistoriker Wolfgang Hafner hat sich mit dem Hauptprodukt befasst, mit dem der Energiegigant Enron handelte. Es sind die Derivate. Derivate haben zum Aufstieg wie zum Fall von Enron geführt. Im Schatten der Derivate heißt Hafners Buch, das aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds hervorgegangen ist.

    Derivate sind ein wichtiges Instrument der gegenwärtigen Finanzwelt. Termingeschäfte, ein Spiel mit der Zukunft. Wie wird sich der Wert einer Währung, einer Aktie, eines Rohstoffs oder einer Ware entwickeln? Darauf werden sozusagen Wetten abgeschlossen, indem man schon jetzt zu einem festgesetzten Preis einen Vertrag abschließt über den Kauf einer gewissen Menge einer Währung, einer Aktie, eines Rohstoffs oder einer Ware - für einen Zeitpunkt, der in der Zukunft liegt. Wenn man dann über dem Marktpreis einkaufen muss, dann kann man viel Geld verlieren. Oder man gewinnt die Wette, wenn zum vereinbarten Zeitpunkt der Kaufpreis weit unter dem Marktpreis liegt.

    Enron wurde als größter Energiehändler der Welt bezeichnet. Das ist nicht richtig. Enron hat in den 80er Jahren zwar als Gas- und Stromhändler begonnen und hat bis zuletzt Gas- und Stromunternehmen in fünfzig Ländern rund um den Erdball gegründet. Aber sehr früh handelte Enron im wesentlichen gar nicht mehr mit Gas und Strom, sondern mit Gas- und Strom-Derivaten.

    Enron war das führende Unternehmen im ganzen Derivathandel mit Strom in Amerika. Enron hat dann immer mehr financial contracts gemacht, also nicht mehr am Anfang einen Kontrakt gemacht und am Schluss wurde Strom geliefert, sondern anstatt dass Strom geliefert wurde, ... hat Enron entsprechend Geld dem anderen Kontraktpartner gezahlt.

    Oder Geld vom Kontraktpartner erhalten. Zum Beispiel von zahlreichen Stadtwerken. Denn Enron hat an den Energielieferungen verdient, weil es nicht zuletzt mit Hilfe des Derivatehandels über eine unglaubliche Marktmacht verfügte. Das lässt sich beispielsweise an der bekannten Stromkrise in Kalifornien im Winter 2000 darstellen. Sie wurde in mehreren Anhörungen in Washington ausführlich untersucht. So erklärte Loretta Lynch, die Vorsitzende der kalifornischen Staatskommission für öffentliche Einrichtungen:

    Der Derivatehandel von Enron mit seinen eigenen Tochterunternehmen war die Hauptursache für die kalifornische Energiekrise. Im vierten Quartal 2000 kauften und verkauften fünf Enron-Tochterunternehmen eine Unmenge Strom untereinander. In diesen Unternehmen saßen überall dieselben Manager. Es waren fingierte Käufe und Verkäufe. Durch sie stiegen die Preise stetig an.

    Enrons Wirtschaftsprüfer verbuchten diese Scheingeschäfte als wirkliche Umsätze, obwohl vielleicht nur ein Fünfzigstel des in den Derivaten gehandelten Stroms am Ende wirklich geliefert wurde. Damit blähte der Enron-Konzern seine Bilanz auf. Douglas Carmichael, Professor für Bilanzrecht, skizziert das Prinzip:

    Enron war dazu in der Lage, seine Energie-Handelsverträge zum vollen Vertragspreis zu verbuchen. Das wäre ungefähr so, als wenn ein Aktienhändler den vollen Verkaufspreis der Aktie eines Kunden für sich verbucht statt nur die Kommission.

    Verglichen mit ein paar Quartalen falsch verbuchter Kosten bei WorldCom sind die Geschehnisse bei Enron also viel komplexer und in der Summe der Bilanzmanipulation auch umfangreicher. Und im Gegensatz zu Wolrdcom hatten die Wirtschaftsprüfer bei Enron auch kaum Möglichkeiten, den wirklichen Gehalt von Geschäften zu ermitteln. Denn Enron hatte nicht nur in Kalifornien, sondern mit Hilfe seiner politischen Beziehungen in ganz USA dafür gesorgt, dass für Strom und Gas die bisherige staatliche Veröffentlichung der Produktions- und Handelszahlen abgeschafft wurde.

    Und so ist dieses Stromgeschäft in keiner Art und Weise beaufsichtigt worden, es ist auch eine Frage des politischen Filzes in Amerika, der sich von den Republikanern bis den Leuten von Enron durchgezogen hat.

    Doch woher sollen Reformen kommen bei den derzeitigen Machtverhältnissen in den USA? Verbraucheranwalt Ralph Nader:

    Glauben Sie wirklich, dass der Kongreß mit echten Reformen kommt? Der Kongress ist doch mariniert in Enron-Öl und Enron-Gas.

    Und so wird sich nach Meinung von Beobachtern an der Deregulierung der Finanzmärkte auch nichts ändern in nächster Zeit. Enron gründete Tausende von sogenannten Partnerschaften. Ihre Rechtsform heißt Special Purpose Entity , also etwa "Unternehmen für besondere Zwecke". Man nennt das auch Briefkastenfirma. Hochrangige Manager von Enron gründeten diese angeblich unabhängigen Special Purpose Entities und spielten die Mehrheitsgesellschafter. Sie schlossen Derivatgeschäfte mit Enron ab, versteckten Gewinne, vor allem übernahmen sie Verluste. Die dann in den Bilanzen von Enron nicht auftauchten.

    Das ist nämlich, indem diese Verluste in offshore-Inseln geparkt wurden, und über solche Manipulationen der Anschein erweckt wurde, das seien sehr wertvolle assets, war es natürlich möglich, dass die Guthaben der Firma unermesslich hoch getrieben wurden, obwohl überhaupt nichts dahinter war.

    Andersen war nicht nur Wirtschaftsprüfer, sondern auch Steuerberater. Andersen half mit, die Partnerschaften in den offshore-Paradiesen zu gründen. Hier gibt es keine klassische Finanzaufsicht. Hier kann man die Eigentümer verschleiern. Hier müssen im Handelsregister keine Bilanzen hinterlegt werden. Bisher wurden etwa 4000 solcher Special Purpose Entities von Enron ermittelt, möglicherweise sind es doppelt so viel. Die bevorzugte Finanzoase waren die Cayman Islands in der Karibik. Ein kurzer Auszug aus der Liste von Enron-Partnerschaften:

    Joint Energy Development Investments Chewco Investments Big River Funding Little River Funding, Cayman Islands

    Auch andere Finanzoasen rund um den Erdball wurden als Sitz von Enron-Töchtern auserwählt, zum Beispiel:

    Enron International Business Corporation, Barbados Eco Electrica, Bermudas Brunel Insurance, Guernsey Enron International Coastal Development, Mauritius

    Und Hunderte von Enron-Tochtergesellschaften in Südamerika, Afrika und Asien wurden ebenfalls in Finanzoasen angesiedelt. So schufen also die Wirtschaftsprüfer von Andersen selbst die Voraussetzung dafür, dass sie die mehr oder weniger fiktiven Derivatgeschäfte, die Enron mit Briefkastenfirmen und Tochtergesellschaften abschloss, nicht prüfen konnten oder gar nicht prüfen durften. Das Honorar für Andersen stieg natürlich mit dem derivativ aufgeblähten Geschäftsumfang. Professor William Powers hat die Aufgabe der Briefkastenfirmen analysiert:

    Es gibt keinen Zweifel daran, dass in diesem Unternehmen jeder wusste, vom Aufsichtsrat runter, dass es den Versuch gab, Investitionsverluste aus den Büchern zu halten. Das ist nicht, wie es funktionieren sollte. Richtige Einnahmen müssen mit richtigen Verlusten verglichen werden. Als Ergebnis dieser Transaktionen hat Enron seine Einnahmen über 15 Monate unredlicherweise um eine Milliarde US-Dollar aufgeblasen. 70 Prozent der Einnahmen waren nicht echt.

    An diesem Mechanismus aus Preismanipulation, Marktmacht und Bilanzaufblähung waren auch andere Akteure beteiligt. Frank Partnoy, Rechtsprofessor an der Universität von San Diego, nannte sie bei einer Anhörung in Washington die "Torhüter". Partnoy hat selbst jahrelang bei einer der große Investmentbanken an der Wall Street gearbeitet – als Derivatehändler.

    Eine vollständige Untersuchung der Derivate muss neben den Wirtschaftsprüfern auch die anderen wichtigen "Torhüter" des Finanzmarktes umfassen, die bei Enron involviert waren: das sind die Banken, die Anwaltskanzleien und die Rating-Agenturen. Sie haben nach den Regularien unserer Börsenaufsicht eine Verantwortung für die Sauberkeit von Finanztransaktionen der Unternehmen.

    Die Banken kassierten Hunderte Millionen Dollar für Aktienemissionen und Derivatgeschäfte. Trotz ihres Wissens um den kommenden Konkurs gaben Aktienanalysten der Banken noch die Empfehlung, Enron-Aktien zu kaufen. Ebenso erhielten Rechtsanwaltskanzleien hohe Gebühren, um tausender Briefkastenfirmen einzurichten und zu verwalten. Schließlich, so Frank Partnoy,

    ... und das ist vielleicht das wichtigste, erhielten die drei großen Rating-Agenturen Moody’s, Standard&Poor’s und Fitch hohe Gebühren von Enron. Noch wenige Wochen vor Enrons Konkurserklärung und als der Aktienkurs schon auf drei Dollar gefallen war, gaben die Agenturen Enron ein gutes Rating.

    Die Rating-Agenturen sind wie die Wirtschaftsprüfer in der amerikanischen Börse eine gesetzlich festgelegte Institution. Die Börsenaufsicht vergibt die Lizenz. Die Kreditvergabe der Banken an Unternehmen wiederum hängt von der Einstufung durch die Rating-Agenturen ab. Enron, obwohl längst konkursreif, erhielt aufgrund des guten Ratings bis zuletzt Kredite, und die Insider konnten Vermögenswerte und Dokumente beiseite schaffen. Doch die Banken, Anwaltskanzleien und Ratingagenturen, ohne die das System Enron nicht möglich gewesen wäre, gerieten nicht im entferntesten so hart in die Kritik wie das Wirtschaftsprüfungsunternehmen Arthur Andersen. Andersen hatte eben nur das Pech, bei der Vernichtung von Dokumenten erwischt worden zu sein. Andersen hat nicht grundsätzlich anders gehandelt als die anderen lizensierten Wirtschaftsprüfer. Die amerikanischen Buchhaltungs- und Bilanzregeln, die vielgerühmten "General Accepted Accounting Principles", - kurz GAAP - sind stark auf Gewinnerwartungen in der Zukunft ausgerichtet. Wolfgang Hafner:

    Es gibt grundsätzliche Probleme und es gibt auch Möglichkeiten beim amerikanischen Bilanzierungssystem, die größere Möglichkeiten geben, um Verluste zu verschleiern. Es ist ein System, das im Prinzip darauf ausgerichtet ist, auf Hoffnung, auf Zukunft und weniger der realistische Bezug zu der Gegenwart. In Europa haben wir ein anderes System, das International Accounting System, das bei den Verlusten einen weniger großen Spielraum lässt.

    Und dazu kommt, als weiterer Risikofaktor, dass Fälle wie Enron, die durch Optionsgeschäfte entstanden sind und nicht aus einer schlichten Bilanzmanipulationen in Zukunft schon deswegen nicht entdeckt werden können, weil die Börsenaufsicht gar nicht zuständig ist. Das Risiko bleibt groß jenseits des klassischen Aktienhandels:

    Daneben gibt es einen Bereich, neben diesem regulierten Bereich, wo alles sehr genau kontrolliert wird, alles vorgeschrieben wird, da spielt sich eigentlich nur ein kleiner Teil des ganzen Marktes ab, vielleicht 10 Prozent unter der Aufsicht der SEC. 90 Prozent daneben, wenn man es auf das Volumen des Geschäfts bezieht, 90 Prozent sind sogenannte OTC oder over the counter-Derivate. Over the counter bedeutet, dass man direkt zwischen den Kontrakt-Partnern, vielleicht vermittelt über den Broker, ein Geschäft abschließt.

    Und so werden die unterschiedlichen Auffassungen über die wirtschaftliche Realität in einer Bilanz und über die Kontrolle der Märkte auch immer wieder zwischen amerikanischen und europäischen Experten umstritten sein. Und immer wieder für Irritationen sorgen wie im Fall WorldCom, der die internationale Telekombranche erneut schwer belastete. Franz-Josef Leven vom deutschen Aktieninstitut und Chris Oliver Schickentanz von der Dresdner Bank:

    Die Buchführungslandschaft, die Rechnungsführungslandschaft ist sehr unübersichtlich, IAS, US GAAP, verschiedene andere Standards, die es gibt, und da wird es dringend Zeit, und das hat die Europäische Union ja auch angeleiert, dass wir zumindest europaweit zu einheitlichen Standards kommen, wünschenswert wären natürlich bei einem globalen Kapitalmarkt auch globale Rechnungslegungsstandards.

    Was jetzt die Übertragung auf andere Werte angeht, Deutsche Telekom, Vodafone oder auch andere Telekomwerte, muss ich sagen, halte ich das Ganze für eine Übertreibung, aber eine Übertreibung, die zunächst einmal verständlich ist, denn natürlich ist auch das Vertrauen in die Bilanzen dieser Unternehmen bzw. in die Bilanzen aller Unternehmen untergraben worden und da ist ganz klar, dass man sich lieber aus solchen Werten zurückzieht und abwartet, was sich bei WorldCom weiter entwickelt.

    Ein Vertrauensproblem werden die US Märkte hierzulande weiterhin haben. Der von George W. Bush ernannte, neue Vorsitzende der Securities Exchange Commission, Harvey Pitt, war selbst jahrelang Lobbyist in Washington für Arthur Andersen und die anderen Wirtschaftsprüfer. Er will zwar harte Reformen, aber keine staatliche Kontrolle. Für die Überwachung der Wirtschaftsprüfer schlägt er ein Gremium vor, den Public Accountability Board. Aber nicht als staatliche Behörde, sondern neben anderen Managern sollen darin auch Vertreter der Wirtschaftsprüfer sitzen und sich selbst überwachen. Pitt verspricht, seine eigenen bisherigen Lobbybeziehungen zu beenden.

    I have recused myself from any specific matter involving any former client. ... what I am interested is to making sure that the american investors get a fair shake.

    Ich habe mich von jedem früheren Kunden zurückgezogen. Der entscheidende Punkt ist, unabhängig davon, wann diese Beziehung genau endet – ich bin hier im Dienste des amerikanischen Investors. Wenn es Sinn macht, mehr Vertrauen herzustellen, dann beende ich jede Kundenbeziehung. Woran ich wirklich interessiert bin, das ist, dass die amerikanischen Investoren wieder einen fairen Anstoß bekommen.

    Zumindest ist hierzulande durch den Worldcom Skandal klar geworden, dass die amerikanischen Aufsichtsbehörden eingreifen, wenn sie eben zuständig sind, das gesteht auch Franz-Josef Leven zu, Vizechef vom Deutschen Aktieninstitut:

    Also, der Fall hat gezeigt, dass die Regeln greifen, die Frage ist, ob sie schnell genug greifen, ob sie sicher genug greifen und ob alle Fälle, die in dieser Art und Weise stattfinden, auch wirklich erwischt werden. Bei uns in Deutschland wäre diese Bilanzmanipulation, so wie es aussieht, genauso ungesetzlich gewesen.

    ... und deswegen mahnt Wolfgang Hafner aus Basel auch an, die grundsätzliche Einstellung zu ändern gegenüber dem Kapital von Anlegern und der Arbeitsplatzsicherheit von Mitarbeitern.

    Solange man nicht umfassend das Wertesystem ändert, die Werteskala, oder versucht zu ändern, wird sich auch sonst nichts ändern. Denn was natürlich mit Andersen passiert ist, ist Ausdruck einer Werteskala, die sich darauf gerichtet hat, dass man einfach möglichst viel Geld macht, dass man möglichst viel Gewinn macht und dass alles, was nicht klar vom Gesetz verboten ist, erlaubt ist. Das ist natürlich eine Grundfrage, die das ganze System an sich erschüttert. Das denke ich, da hat niemand Interesse, diese Grundfrage zu stellen und zu versuchen, anhand der Schadensfälle, die sich ereignet haben, neue Werte wieder zu schaffen oder neue Werte zu gerieren.

    Ganz im Sinne des am Wochenende noch bestürzten amerikanischen Präsidenten, neue Fälle, wie der von Xerox, werden sicher nicht lange auf sich warten lassen.

    I am deeply concerned that this could take place in America.