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Wozu Psychoanalyse?

Eine neue Entdeckung oder Forschungsmethode als wissenschaftlich nicht bewiesen zu bezeichnen, war und ist auch heute noch eines der beliebtesten Argumente der etablierten Wissenschaft. Ein solches Schicksal ist der Psychoanalyse länger als ein ganzes Jahrhundert über beschieden geblieben. Und daran wird sich wohl auch, gerade im Zeichen einer immer stärker apparatetechnisch und gentechnologisch orientierten Medizin nichts ändern. Die Vorstellung von einer effizienten Therapie entfernt sich, zumindest vorläufig, noch stärker von den verschlungenen Wegen der eher archäologisch vorgehenden Seelenerforschung. Aber - und dies kann Elisabeth Roudinesco in ihrer neuen Studie Wozu Psychoanalyse? in immer neuen Anläufen überzeugend darstellen - die technizistische Effizienz ist trügerisch.

Hans-Jürgen Heinrichs | 17.08.2002
    "Der Tod, die Leidenschaften, die Sexualität, der Wahn, das Unbewußte, die Beziehung zum Mitmenschen - das alles prägt den einzelnen Menschen in seiner Subjektivität, und keine Wissenschaft, die diesen Namen verdient, wird je damit zu Rande kommen...

    Die psychoanalytisch orientierte Arbeit an den subjektiven, lebensgeschichtlichen Bedingungen eines Leidens führen zu einem Wandel in der Selbsterfahrung und im Zusammenleben mit anderen Menschen. Die "Effizienz" ist mit Instrumenten, die nicht darauf geeicht sind, auch nicht festzustellen. Der Vorschlag eines amerikanischen Psychologen etwa, die Libido zu "messen" und Freuds Namen als Maßeinheit zu nehmen, kann noch als eine der liebeswürdigsten absurden Annäherungen verstanden werden.

    Besonders gravierend ist die anhaltende Abwehr gegen die Psychoanalyse und die Bevorzugung der "messbaren" Psychopharmakologie in der Psychiatrie, wo die Symptombeseitigung "effektiv" geschieht: in kürzester Zeit wird die größtmögliche Ruhestellung des Patienten ermöglicht:

    Völlige Stille herrscht nun statt der Leidenschaften, das Nichts tritt an die Stelle des Subjekts ... in der liberalen depressiven Gesellschaft ist Zeit für den Psychologen, Psychiater, Krankenpfleger oder Arzt ein äußerst knappes Gut.

    Die Frage "Wozu Psychoanalyse?" offenbart durch die Einfügung des unscheinbaren Wörtchens "noch" überdeutlich die Richtung, in der die Frage ohnehin zumeist gestellt wird Wozu noch Psychoanalyse, wo wir doch jetzt die Hirnforschung, die Pharmakologie, die Genforschung und die modernen Verhaltenswissenschaften haben? Die Studie der in Paris lehrenden, zur Zeit sicher populärsten Psychoanalytikerin, Elisabeth Roudinesco, ist eine profunde Streitschrift für das einzigartige Existenzrecht der Wissenschaft vom Unbewussten im Zeichen ihrer neuerlichen Bedrohung.

    Die Seele wird von den mit der Psychoanalyse konkurrierenden Wissenschaften immer stärker als ein physikalischer Gegenstand angesehen. Der damit einhergehende Boom der Psychopharmaka lenkt von den Ursachen der Verhaltensstörungen und Krankheiten ab. Der Blick für die Subjektivität und den tragischen Menschen (der sich, ganz anders als der behavioristische Mensch, mit Leben und Tod existentiell konfrontiert sieht) geht verloren.

    Die Gesellschaft, die diese Haltung fördert, nennt Roudinesco eine depressive Gesellschaft.:

    Die depressive Gesellschaft tendiert dahin, die menschliche Widerstandskraft in ihrem Kern zu zerstören... Zahlreiche Menschen greifen von sich aus viel lieber zu chemischen Substanzen, als dass sie über ihre ganz persönlichen Leiden sprechen würden. Der depressiven Gesellschaft kommt dies sehr gelegen.

    Wozu Psychoanalyse? bietet ein feinmaschiges argumentatives Netz für eine zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit dem Unbewussten und Ungewussten, Verfemten und Heterogenen, gegen die Verflachungen, Verkürzungen und Verführungen der Naturwissenschaften/Die im öffentlichen Leben Frankreichs sehr präsente Autorin, die bei Jeder sich bietenden Gelegenheit die Psychoanalyse erklärt und rechtfertigt, ist mit ihren bisherigen Arbeiten vor allem als Historikerin, als biographisch orientierte Geschichtsschreiberin der Freudschen und Lacanschen Theorie hervorgetreten. Im vorliegenden Buch greift sie direkter diejenigen an, die in der Medizin, der Psychiatrie und der naturwissenschaftlichen Forschung die therapeutische und gesellschaftskritische Wirkkraft der Psychoanalyse schwächen und sie als ganze bedrohen. Aber auch innerhalb der Psychoanalyse zeigt sie Tendenzen der Selbstzerkleinerung auf, vor allem bei denen, die das von Anfang an in ihr stark ausgeprägte Potential als Befreiungsbewegung der Institutionalisierung unterordnen. Die Psychoanalyse ist keine "Normalwissenschaft", sie sollte sich nicht den scheinobjektiven Vorstellungen von Rationalität und Effektivität beugen, sie darf sich nicht auf eine mit der Pharmakologie messende Therapie reduzieren lassen - wie ein Medikament kann man sie nicht einnehmen.

    Dass der Mensch dies überhaupt in Erwägung zieht, ist für Roudinesco ein Beweis dafür, dass sich das Subjekt (das Wert auf seine persönliche Lebensgeschichte legt) aufgegeben hat. Die Gesellschaft und die Medizin "belohnen" dies mit anonymer Behandlung. So treffen sie sich in dem Wunsch, dem konflikthaften Wesen Mensch aus dem Weg zu gehen. Die Psychoanalyse, so Roudinescos Appell, müsse neue Verbindungen zur Philosophie, zur Psychiatrie und zu den Psychotherapien knüpfen, um eine Richtungsänderung zu initiieren:

    Dazu muss es ihr allerdings gelingen, den Konflikten, die unausweichlich inmitten der depressiven (vom Wüten des zerstörerischen Nihilismus geprägten) Gesellschaft selbst ausbrechen werden, einen Sinn zu geben. Das clownhafte Menschenbild des Behaviorismus könnte dann sehr wohl verschwinden wie eine Fata Morgana, die sich in den Sanddünen der Wüste auflöst.

    Die Verführungen der depressiven Gesellschaft bestehen darin, dass sie den einzelnen als ökonomisch wichtiges, global denkendes Individuum aufwertet und so ihr mangelndes Interesse an der Subjektivität vertuscht. Die lebensgeschichtlichen Brüche, die Leiden, Behinderungen und Defizite des Subjekts werden im Sinne einer chemisch-biologischen Logik solange quantifiziert, bis die Suche nach dem Sinn einer erfahrenen Tragik vergessen ist und man möglichst nicht länger nach Ursachen fragt, die jenseits des biopolitischen Systems liegen.

    So manche verstiegene Behauptung der naturwissenschaftlichen Medizin und Genetik - etwa in Bezug auf die Homosexualität oder auf Krankheiten wie Krebs und AIDS -, die als besonders effizient erschien, hat längst ihre wackelige Grundlage offenbart:

    Zwischen der Behandlung mit psychotropen Stoffen einerseits und der Psychoanalyse andererseits, sowie zwischen den Fortschritten in der Himforschung und der Weiterentwicklung aussagekräftiger Erklärungsmodelle der Psyche hätte im Prinzip ein Gleichgewicht aufrecht erhalten werden müssen. Das war aber nicht der Fall.

    Roudinesco hat mit dieser Studie einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die therapeutischen und kulturtheoretischen Potentiale der Psychoanalyse im Zeichen ihrer neuerlichen Bedrohung besser erkennbar werden. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die der Psychoanalyse eigenen Schatten und Grenzen (etwa in der Behandlung von Psychosen und Perversionen und in der massiven Abwehr gegen vielfältige Kooperationen mit ganz anderen Psychotherapieformen und auch mit den Naturwissenschaften, vor allem der Hirnforschung) stärker thematisiert worden wären.

    Die in der Psychoanalyse weitgehend vorherrschende Geringschätzung des Synthetischen und Visionären gegenüber dem Analytischen hat mit eigenen Defiziten der Analytiker zu tun. In diese Bresche springen die (seriösen und unseriösen) Anbieter eines anderen, holistischen Lebensentwurfs. Wenn die Psychoanalyse etwa in der Behandlung von Perversionen und Depressionen erfolgreicher sein will, muss sie umdenken. Wenn die Perversion eine Plombe in dem von Grund auf gefährdeten Selbstbild des Betroffenen darstellt, wenn die Gefühle der Einsamkeit und des Identitätsverlusts in der Depression unerträglich werden, dann kann Heilung nur in der analytisch-synthetischen Entfaltung eines neuen Lebensentwurfs gelingen.1 Die Kraft der Deutung und des Visionären dürfen die Psychoanalyse und die Kulturwissenschaften nicht an die Biowissenschaften (die sich als die neuen zukunftsweisenden Lebenswissenschafter mit Alleinvertretungsanspruch zu inthronisieren versuchen) abgeben. Wenn die Genforschung den Schöpfungsbegriff pervertiert, hat die Psychoanalyse die Chance, sich zum Schöpferischen, jenseits des Größenwahns und destruktiver Kräfte, zu bekennen. So kann das Subjekt in seinen bewussten und unbewussten Anteilen, in seiner Tragik und einzigartigen geistigen und kulturellen Kraft in den Vordergrund treten und die gängigen Reduktionen auf den behavioristischen Menschen mit einem "zerebralen", "biologischen" oder "automatischen" "Unterbewussten" zurückweisen.