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Wuchtiges Klangspektakel am Bosporus

Der 42-jährige türkische Komponist und Pianist Fazil Say ist einem größeren deutschen Publikum spätestens seit seiner Festanstellung am Konzerthaus Dortmund bekannt. Orchesterwerke, Kammermusik, Klavierwerke, aber auch viel Jazz gehört zum Repertoire dieses hoch gelobten Künstlers. In Istanbul erregte er jetzt Aufsehen mit einer neuen Sinfonie.

Von Jörn Florian Fuchs | 29.06.2012
    Es ist leicht, sich über Fazil Say lustig zu machen. Als Pianist spielt er gern - unter lautem Stöhnen - extravagante Kadenzen, als Komponist schreibt er gut hörbare Kompaktpartituren, die westliche Ohren in nicht allzu gewagte Klanggefilde führen. Immerhin gibt es oft schön gesetzte Orientornamente und gelegentlich benutzt Say Instrumente, die nicht unbedingt zum Standardmobiliar eines Symphonieorchesters aus unseren Breiten gehören.

    In seiner zweiten Symphonie, die jetzt beim Istanbul Music Festival als Auftragswerk herauskam, sorgt ein Theremin für transzendente Engelsmusik, während die übrige, sehr blech- und perkussionlastige Orchesterbatterie (inklusive exotischer Wind- und Wasserraritäten) fleißig Schostakowitsch oder Bartók anklingen lässt. Sehr aufgeheizt ist das, zeitweise arger Filmmusikbombast, immer wieder aber auch eindringlich zurückgenommen. Say kombiniert pulsierende Streichertupfer - inklusive einer pochenden Harfe - mit rabiaten Klavierdissonanzen, oft liegen dröhnende Drohungen über einem recht simpel gewobenen Klangteppich. Womöglich unabsichtlich - und keineswegs ungeschickt - verschränkt Say musikalische Klischees aus West und Ost, führt sie manchmal regelrecht vor. Der Name seiner Symphonie ist "Mesopotamia", Say möchte einen geografischen und weltanschaulichen Parcours abschreiten. In seiner schön gelegenen Wohnung mit Blick aufs Wasser erklärt er die Grundideen:

    "Die beiden Hauptdinge sind die Flüsse Euphrat und Tigris und die Glaubensweisen von 7000 Jahren, Sonne und Mond, die Situation von südöstlicher Türkei und Nahem Osten insgesamt. Und es geht um das, was die Philosophen die Culture of Death nennen: Krieg, Terror, Tod. Das ist in drei von den insgesamt zehn Sätzen dieser Symphonie radikal aufgenommen."

    Nun fand diese Uraufführung ja nicht in Donaueschingen oder im Münchner Gasteig statt, sondern in einem Istanbuler Kongresszentrum. Dort wurde das Ganze ein gigantischer Publikumserfolg. Die Ovationen galten vermutlich nicht nur dem Künstler Fazil Say, sondern sind auch als Statement zu verstehen.

    Seitdem Say sich vor ein paar Wochen per Twitter über muslimische Glaubensgrundsätze lustig gemacht hat, steht er unter heftigem Beschuss. Die Oberstaatsanwaltschaft der Türkei hat ein Verfahren gegen ihn eröffnet, im Oktober soll die erste Verhandlung stattfinden. Der konkrete Vorwurf lautet: "Öffentliche Herabwürdigung religiöser Werte, die von einem Teil der Bevölkerung geachtet werden".

    Say spielt mit dem Gedanken, auszuwandern, sollte es zu einer Verurteilung kommen. Vor dem Mikrofon äußert sich aus naheliegenden Gründen nicht zu dem Thema. Dass es überhaupt zu solch einem Verfahren gekommen ist, dürfte der in letzter Zeit immer heftigeren politischen Radikalisierung (klerikal und nach rechts) von Ministerpräsident Erdoğan und seiner Regierungspartei AKP geschuldet sein.

    Finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite gibt es für das Istanbul Music Festival übrigens kaum, fast alles bezahlen private Sponsoren. Der Borusan-Konzern ist wesentlicher Finanzier und leistet sich sogar einen eigenen Klangkörper namens Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra - welcher (unter der hervorragenden Leitung von Gürer Aykal) Says Symphonie imposant uraufgeführt hat.

    Im weiteren Programm dieser Festspielausgabe gab es unter anderem Gastspiele des Zürcher Balletts, große Namen wie die Pianistin Hélène Grimaud oder den Gitarrenvirtuosen Miloš, türkische Nachwuchskräfte konzertierten mit einschlägigen Altmeistern. Und der im globalen Musikbetrieb immens erfolgreiche Georgier Giya Kancheli stellte ein neues, zart trauriges Werk vor.