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Wunderkammer der Vergangenheit

Vor 20 Jahren hat der serbische Schriftsteller Bora Ćosić seine Heimat verlassen. In seinem neuesten Buch kehrt er in das Belgrad seiner Kindheit zurück und lässt Szenen der jugoslawischen Geschichte und Kulturgeschichte seit den 1930er Jahren Revue passieren.

Von Martin Sander | 10.04.2012
    Bora Ćosić ist einer der herausragenden Intellektuellen Serbiens. In einem gewissen Sinne müsste man sagen: Er war es. Denn vor zwei Jahrzehnten hat Ćosić seiner Heimatstadt Belgrad den Rücken gekehrt – aus Protest gegen die damalige Kriegspolitik von Slobodan Milošević. Seither lebt Ćosić hauptsächlich in Berlin und teilweise im kroatischen Rovinj. Das Wort "Exil" wollte der Schriftsteller und studierte Philosoph für seine Lage nicht gelten lassen. Er verglich sie lieber mit dem Zustand einer zerrütteten Ehe zwischen ihm und seinem Land, die keine Scheidung erfordere, jedoch eine Trennung auf Dauer. Die Trennung reflektiert Ćosić in der 2001 auf Deutsch erschienenen "Zollerklärung", einem Abschiedsprotokoll mit philosophischem Hintersinn und melancholischem Witz. International bekannt geworden war der Autor mit seinem 1969 erschienenen Roman "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution", einer Satire über die Reaktionen des Belgrader Kleinbürgertums auf Titos Machtübernahme am Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor einem Jahr erschien "Eine kurze Kindheit in Agram", Erinnerungen an die ersten Lebensjahre in der Geburtsstadt Zagreb. In seinem jüngsten Werk "Frühstück im Majestic" kehrt der Autor in das Belgrad seiner späteren Kindheit zurück.

    "Meine Mutter unter der Friseurhaube, mein Vater, der in seinen Gymnastikstunden auf das Reck kletterte, und ich selbst, der ich völlig nackt vor einer Quarzlampe stehen musste, war das alles "normal", gewöhnlich, oder glitt es langsam, aber sicher in den Wahnsinn ab. Da war es nicht verwunderlich, als wir hörten, dass eine Nachbarin vom fünften Stock in den Hof gesprungen war und eine andere der Blumenfrau Soda ins Gesicht geworfen hatte, weil diese ihr den Mann weggenommen hatte."

    Mit fünf Jahren, im Herbst 1937, zog Bora Ćosić mit seinen Eltern, beide Serben aus Kroatien, von Zagreb nach Belgrad. In Zagreb, Boras Geburtsstadt, hatte der Vater als kaufmännischer Angestellter gearbeitet. In Belgrad steigt er beruflich auf. Einen starken Eindruck auf den Fünfjährigen macht in der neuen Belgrader Umgebung das damals gerade eröffnete "Majestic". Errichtet im Stil der Moderne, gelegen im engeren Stadtzentrum von Belgrad, ist das Hotel auch heute noch in Betrieb. Von hier aus lässt der Erzähler Szenen der jugoslawischen Geschichte und Kulturgeschichte Revue passieren. Im "Majestic" pflegte nicht nur ein Sohn von Josip Brom Tito wütend einzufallen. Im "Majestic" verkehrten die großen Dichter Jugoslawiens, der Kroate Miroslav Krleža ebenso wie der Serbe Miloš Crnjanski. Das "Majestic" steht im Mittelpunkt einer urbanen Szenerie, an die sich der Schriftsteller Ćosić erinnert, wobei er sich nur gelegentlich in die Seelenlage seiner Kindheit versetzt. Er ist vor allem ein philosophisch reflektierender Erzähler. Er will der ihn faszinierenden Künstlichkeit des Stadtlebens analytisch auf den Grund gehen.

    "Die Stadt ist eigentlich eine Vertretung, ein Ort, der alles andere repräsentiert, den Staat, das Land, die Gegend und die Leute. Deshalb wird derart viel Wert auf die Dekoration gelegt, die Szenographie ist bei der Theaterarbeit unumgänglich. Das Dekorative ist so die erste Eigenart des Städtischen, seine Arbeit an den Verzierungen, dem Schmuck des Lebens. Und da es sich um eine Synthese handelt, muss die Stadt viel Allgemeines in sich haben, jene Allumfassendheit, die außerhalb des Städtischen überall verstreut ist. Die Stadt ist die Liste, der Katalog und das Lexikon des Übrigen. Daher muss man sie handhaben, wie man das Register einer Bibliothek oder einer Meldestelle, einer polizeilichen, durchforstet."

    In seinen "Belgrader Erinnerungen" lässt Bora Ćosić unter anderen Vertreter der literarischen Moderne Belgrads aufleben, die ihn beeinflussten. Angezogen fühlt er sich besonders von den Surrealisten Dušan Matić, Marko Ristić oder Aleksandar Vučo.

    "Daher müsste meine Chronik möglicherweise in dem Augenblick beginnen, als in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine kleine Gruppe Halbwüchsiger im Restaurant des Hotels Moskva einen unmöglichen, ungewöhnlichen und unerwarteten Akt vollführte, als sie darüber stritt, wer die Schabe, die über den Tisch krabbelte, essen würde. Wodurch gewissermaßen eine radikale Revolte in der Geschichte unserer südslawischen und balkanischen Kultur entfacht wurde und wo, dem allgemeinen bürgerlichen Geschmack zum Trotz, der Surrealismus geboren wurde."

    Mit dem "Frühstück im Majestic" liefert Bora Ćosić Einblicke in die geistige Atmosphäre Belgrads, der Hauptstadt Jugoslawiens, seit Ende des Ersten Weltkriegs. Vor allem den Kunstströmungen nähert sich der Autor mit nostalgischer Begeisterung. Anders als etwa in seinem berühmtesten Buch, das ebenfalls in Belgrad spielt, der "Rolle meiner Familie in der Weltrevolution", beschreibt er den Alltag der Stadt in einer stets philosophisch umspielten Metaphernsprache, was mitunter den Eindruck des Kunsthandwerks vermittelt. Wer Ćosićs Werk kennt und schätzt, wird sich auch an diesem Buch bereichern. Wer den Intellektuellen und Schriftsteller Bora Ćosić kennenlernen möchte, dem sei vor der Lektüre des neuen Bandes sein Klassiker "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" ans Herz gelegt.

    Bora Ćosić: Frühstück im Majestic. Belgrader Erinnerungen.
    Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber
    Carl Hanser Verlag, 143 Seiten, 14,90 Euro