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Wunsch nach einer europäischen Öffentlichkeit

Die Krise, das Gelingen der europäischen Idee: Der niederländische Publizist Geert Mak und der Zeithistoriker Walter Laqueur hinterfragen den Weg Europas. Beide sehen die Staatengemeinschaft an einem Scheideweg.

Von Marc-Christoph Wagner | 01.10.2012
    Kurz vor der Jahrtausendwende reiste der niederländische Publizist Geert Mak ein Jahr lang durch Europa, um an historische Orte des 20. Jahrhunderts zurückzukehren. Daraus entstand wenige Jahre später sein Buch "In Europa", worin Mak einen interessanten Umstand vermerkt – einen Umstand, den er kürzlich in einem Gespräch an der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen wiederholte:

    "Für Deutsche, Franzosen, Italiener, insbesondere auch für Polen ist Europa ein Friedensprojekt – und deshalb von enormer Bedeutung, selbst für heutige Generationen. Für viele kleinere Staaten hingegen, zum Beispiel die Skandinavier, ist Europa, so mein Eindruck, ein ökonomisches Projekt, während das politische Projekt, das Friedensprojekt, vergessen scheint. Das ist auch ein großer emotionaler Graben."

    Auch in seinem neuen Buch "Was, wenn Europa scheitert" erinnert Mak an die Grundzüge des europäischen Integrationsprozesses. Immer wieder hätten die EU-Staaten in der Vergangenheit den Willen zu Kompromissen im Interesse des europäischen Ganzen bewiesen – eine Kompromissbereitschaft, die gerade heute nötiger wäre denn je.

    "Die Eurokrise, die wir gerade erleben, ist also nicht nur ein finanzieller Waldbrand, der durch zu hohe Staatsschulden ausgelöst wurde und bei dem die Banken wie Dominosteine umzufallen drohen. Sie ist vor allem eine politische Krise und eine tiefgreifende Vertrauenskrise zudem. Die Einigung der verschiedenen europäischen Staaten, die alle ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Wunden und Erwartungen hatten, war in der Vergangenheit nur möglich, weil sie trotz allem bereit waren, sich auf eine gemeinsame Reise zu begeben. Nun scheinen sie erschöpft zu sein."

    Deutliche Kritik richtet Mak in diesem Zusammenhang auch an die vermeintlich starken EU-Staaten, insbesondere für die Politik der Bundesregierung findet der Autor harsche Worte. Diese hätte sich zu oft am heimischen Wähler orientiert, anstatt frühzeitig entschiedene Maßnahmen im Sinne des europäischen Ganzen zu ergreifen:

    Früher war Deutschland selbst einmal das Opfer einer solchen Moralität und der einseitigen Logik des Rechthaben-Wollens. Und zwar, als es 1918 am Boden lag und für Schaden aufkommen musste, den es im Ersten Weltkrieg angerichtet hatte. Die Reparationszahlungen waren zum Teil berechtigt: Die Zerstörungen, die Deutschland zum Beispiel Belgien zugefügt hat, waren entsetzlich. Nur wenige erkannten den politischen Sprengstoff, der sich, auch infolge dieser Wiedergutmachungszahlungen, in Deutschland ansammelte. Die Folgen kennen wir. Kurzum: Mit Schuld und Sühne löst man keine Finanzkrise. Und mit Sparen allein zieht man keine Wirtschaft aus dem Morast. Wir werden durch unsere eigene Moralität geblendet. Wir tragen im Kern einen kulturellen Konflikt aus. Und das untergräbt immer mehr das Vertrauen in den Euro und am Ende das Vertrauen in das ganze europäische Projekt.

    Genau an diesem Punkt treffen sich die Analysen von Geert Mak und dem 1921 in Breslau geborenen Walter Laqueur, wohl einer der renommiertesten Zeithistoriker weltweit. Zwar habe der europäische Integrationsprozess in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, noch immer aber sei er ein im Grunde elitäres und von der europäischen Öffentlichkeit abgehobenes Projekt. Europa ist erschaffen worden, schreibt Laqueur. Aber wo sind die Europäer, wo die europäische Solidarität?

    Europa ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein postnationalistischer Kontinent genannt worden, doch diese Bezeichnung ist nur teilweise zutreffend. Die Loyalität des Einzelnen und der Gruppe gilt immer noch dem Mutterland und dem eigenen Volk. Und während selbst diese Loyalität wie auch die Bereitschaft, ihr Opfer zu bringen, schwächer geworden ist, so ist sie dennoch viel stärker, als jede paneuropäische oder kosmopolitische Einstellung. Die Loyalität zur Nation, zu ihren Werten und Interessen hat sich als stärker erwiesen als jede andere Ideologie und Emotion, wie sehr sie vernunftmäßig auch überzeugen mag.

    Folgt man Walter Laqueur, so stehen Europa turbulente Zeiten bevor. Um seine Schuldenlast abzutragen und die Ansprüche der Bürger zu finanzieren, brauche der Kontinent permanentes Wachstum. Ansonsten – und angesichts einer überalternden Bevölkerung und sinkenden Wettbewerbsfähigkeit scheint dieses Szenario wahrscheinlicher – werde es innerhalb der Gesellschaften zu Verteilungskämpfen kommen, zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, die zu erheblichen Spannungen führen könnten. Und so bleibe Europa im Grunde nur eine Alternative: ein wirklicher Zusammenschluss. Oder eben endgültiger Verfall.

    Individuen und Gruppen entscheiden sich erst dann zu engerer Zusammenarbeit, wenn sie vor einer unmittelbaren Gefahr stehen. Es scheint daher einigermaßen offensichtlich, dass nur eine größere Krise den Antrieb liefern würde, der nötig ist zu einem größeren Schritt nach vorn auf dem Weg zur europäischen Einheit auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet und zu einer gemeinsamen Außen-, Verteidigungs- und Energiepolitik. Die Rezession von 2008 war offenbar nur ein kleinerer Schock und seine politischen Auswirkungen waren nicht traumatisch genug.

    Europa steht an einer Wegscheide – darin sind sich beide Autoren einig. Ist Laqueurs Analyse – wie schon der Buchtitel Europa nach dem Fall andeutet – in einem pessimistischen Grundton verfasst, so lässt Mak zumindest noch ein wenig hoffen. Aber auch für ihn steht fest: An einem wirklichen Integrationsschub kommt Europa nicht vorbei.

    "Wir vergessen, was Europa bedeutet. Wir können im 21. Jahrhundert mit Mächten wie Indien, China, den USA, Brasilien und anderen nur überleben, wenn wir Europäer zusammenhalten. Sollten wir diese Tatsache unterschlagen, dann wird Europa von einem Hort der Modernität in ein Vakuum verfallen."

    Nein, man ist nach der Lektüre dieser beiden Bücher nicht sehr viel optimistischer, was die Zukunft Europas betrifft. Allerdings sieht man die aktuelle Krise in einer sehr viel größeren Perspektive und versteht, wie dringend wir neben einem geeinten Europa auch eine europäische Öffentlichkeit brauchen. Beiden – Bürgern und ihren gewählten Repräsentanten – seien diese beiden Bände deshalb wärmstens empfohlen.

    Buchinfos:
    * Geert Mak: "Was, wenn Europa scheitert". Pantheon Verlag, 144 Seiten, 9,99 Euro, ISBN: 978-3-570-55198-1

    * Walter Laqueur: "Europa nach dem Fall". Herbig Verlag, 358 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-776-62699-5