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"Wutbürger"

"Wutbürger" wurde zum Wort des Jahres 2010 gekürt. Was das ist, ein Wutbürger, hatte der Spiegeljournalist Dirk Kurbjuweit bereits im Oktober definiert: "Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker."

Von Burkhard Müller-Ulrich | 17.12.2010
    Im Vorrat der emotionalen Aufputschmittel, mit denen der heutige Homo Politicus seinen Diskurs dopt, befindet sich neben Trauer und Verzweiflung auch die Wut. Früher firmierte dieser Gefühlszustand pathetischer als Zorn, aber weitaus populärer ist inzwischen die Marke Wut. Wut ist toll, Wut tut gut. Jedes Mitglied unserer modernen Erregungsgesellschaft braucht die gelegentliche Abfuhr angestauter Negativität. Das gilt nicht nur für Mitbürger, die uns auf S-Bahnhöfen in die Fresse schlagen und gegen den Kopf treten, sondern auch die wohlgesinnten Schotterer und Parkbaumwächter. Alles Wutbürger - und sie sind überall.

    Wir sehen Wutbürger im Fernsehen, wie sie Unsägliches aus heiseren Kehlen schreien, in fernen Ländern verbrennen sie unsere Fahnen und fordern unseren Tod, mitunter verüben sie ein schweres Attentat. Alles aus Wut. Wut ist die große Kraftquelle der Menschheit, eine Energieressource, deren mehr oder weniger geschickte Steuerung als Politik bezeichnet wird. Denn von nichts kommt nichts: auch Wut muss geschürt werden wie Glut. Wut ist eben nicht nur Rohstoff, sondern auch politisches Produkt.

    Der deutsche Wutbürger, dem der "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit den Namen gab, ist auch ganz bürgerlich darauf bedacht, seine Wut zu bewirtschaften. Man will sich ja nicht völlig umsonst verausgaben. Proteste und Demonstrationen finden bei günstigem Wetter als Familienausflug statt. Man distanziert sich von denen, die nachts Autos abfackeln, es könnte nämlich mal das eigene sein. Doch Wut ist eine entgrenzende Droge: wenn sie wirkt, gelten keine Regeln mehr, und alles kann in Raserei ausarten.

    Diese süße Lust am Wahnsinn ist es, was den Bürger lockt. Seine Wut dient ihm als selbstgefällige Lizenz zum Ausflippen. Der Ausnahmezustand hat etwas Verführerisches: Wer wütend ist, muss nicht mehr logisch argumentieren. Vor allem hat, wer wütend ist, höhere Rechte - zumindest maßt er sie sich an. Denn Wut gehört im politischen Jargon zu den überhöhten, ja fast heiligen Zuständen - zusammen mit Trauer und Verzweiflung. Wer sich darauf beruft, kann nicht nur Zustimmung, sondern auch Achtung erwarten - so wie früher Kriegsversehrte mit Medaille.

    Der Wutbürger ist also jemand, der seine Achtbarkeit durch Aktionismus auflädt und zugleich behauptet, das habe mit Demokratie zu tun. Denn auch auf deren parlamentarisches Funktionieren ist er wütend. Wahrhaftig: dieser Wutbürger ist ein Phänomen von zunehmendem Gewicht. Das Wort aber besitzt dieses Gewicht noch lange nicht. Bei aller Hochachtung vor dem "Spiegel"-Autor Kurbjuweit: es ist nicht mal ein schönes Wort, und bis heute spielte es in der Öffentlichkeit so gut wie keine Rolle.