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Xavier-Laurent Petit: Mein kleines dummes Herz
"Eine einzigartige Gemeinschaft von Frauen"

Die 9-jährige Sisanda ist die Protagonistin der Geschichte. Gemeinsam lebt sie mit Mutter und Großmutter in einem afrikanischen Dorf. Sisanda leidet an einem Herzfehler und braucht dringend eine Operation, die sie sich nicht leisten kann. Doch sie verliert nie den Mut.

Von Ursula Nowak | 20.12.2014
    Frauen auf einem Markt in Touba, Senegal.
    Sisanda geht jeden Morgen zur Schule, danach muss sie sich ausruhen. So vergeht Tag um Tag. (imago/Xinhua)
    Die medizinische Versorgung ist in weiten Teilen Afrikas mangelhaft. Die Krankenhäuser sind verglichen mit europäischen Verhältnissen bescheiden ausgestattet. Für die 9-jährige Sisanda ist das Leben in Afrika besonders schwierig. Sie wurde mit einem Herzfehler geboren. Nur eine Operation kann ihren gesundheitlichen Zustand verbessern. Die Operation kostet Geld, viel Geld, aber das können ihre Eltern nicht aufbringen. Der Weg zum Krankenhaus in die nächste Stadt dauert mehrere Stunden, doch auch dort kann die Operation nicht stattfinden, es fehlt an allem und der Strom fällt häufig aus. Xavier-Laurent Petit:
    "Wir Europäer leben in einer Welt, in der es unwillkürlich ganz viele Schwierigkeiten gibt und in der es schließlich doch extrem leicht ist zu leben. Klar, man weiß, wir haben Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit und Dinge, die nicht funktionieren. Aber wenn wir krank sind, finden wir auf jeden Fall ein Krankenhaus, das uns helfen kann, es gibt dort kompetente Ärzte et cetera. Ich habe die Geschichte für Kinder und Jugendliche geschrieben und wollte ihnen klar machen, wenn man nur zwei Stunden mit dem Flugzeug fliegt, ändert sich die Welt komplett, das tägliche Leben woanders ist absolut nicht mehr einfach."
    Sisanda lebt mit ihrer Mutter und Großmutter sowie ihrem Onkel in einem Raum. Vorhänge trennen die Schlafplätze. Der Onkel, genannt Onc'Benia ist geistig zurückgeblieben. Er hütet die Ziegen und hat die Aufgabe, jeden Tag das kranke Mädchen auf seinem Rücken zur Schule zu tragen. Sisandas Vater arbeitet und lebt an einem weit entfernten Ort. Er schickt Geld und einmal im Monat ruft er beim Lebensmittelhändler im Dorf an, um seine Rückkehr anzukündigen. Es vergehen jedoch Monate, ohne dass der Vater zurückkommt.
    Ach ja, und es geht ihm gut, wir sollen uns keine Sorgen machen, er kommt bald zurück.
    Mit einer poetischen Sprache beschreibt Xavier-Laurent Petit die Natur Afrikas. Wüstenwinde, Regenzeit oder die flimmernde Mittagshitze bestimmen den Ablauf eines Tages. Sisanda geht jeden Morgen zur Schule, danach muss sie sich ausruhen. So vergeht Tag um Tag, Monat um Monat. Sisanda zählt ihre gelebten Tage und ihren Herzschlag. An manchen Tagen kann Sisanda ihr Bett nicht verlassen, besonders dann, wenn der Wüstenwind tobt und sie kaum atmen kann. Dann bleibt sie still liegen und wartet ab.
    Daran ist der Wind schuld. In der Nacht hat es wieder zu stürmen angefangen. Der Wind tost ums Haus und wirbelt Staubwolken auf, die mich nicht atmen lassen.
    Das Warten erzeugt Spannung
    "Ich glaube, ein wichtiger Faktor für die Geschichte ist die Zeit. Es ist die Zeit, die vergeht. Es sind die Ereignisse, die passieren, die Telefonate des Vaters monatlich, im gleichmäßigen Rhythmus, die Mutter, die immer wieder das Gleiche tut. Das gibt der Geschichte den Rhythmus. Es gibt dem Leser das Gefühl, dass Zeit vergeht und die Krankheit schreitet voran. Der Rhythmus ist wichtig für das Funktionieren des Buches.
    Das Warten erzeugt Spannung, denn es wird auch dem jungen Leser klar, dass es allerhöchste Zeit ist, dass etwas passieren muss, dass endlich die Operation stattfindet. Sisanda wird täglich schwächer, sie darf sich weder überanstrengen noch aufregen. In ihrer Schultasche hat sie ein Notfallmedikament für den Fall, dass sie ohnmächtig wird. Rennen, Toben, draußen spielen hat ihr Apollinaire, der Arzt, verboten. Das Mädchen weiß sehr genau, wo seine Grenzen sind. Sie weiß es sogar besser als der behandelnde Arzt.
    Ich weiß genau, dass ich nichts wie die anderen machen kann. Bei der geringsten Anstrengung fange ich zu keuchen an, die Welt um mich herum verschwimmt und mir wird schwarz vor Augen. Dann werde ich ohnmächtig. Und es gibt Tage, an denen fällt mir das Atmen so schwer, dass meine Lippen violett werden. Also, Apollinaire, du merkst... alles, was du mir sagen willst, weiß ich bereits, und bestimmt besser als du.
    Sisanda liebt Mathematik
    Es stimmt. Sisanda hat einen guten Kontakt zu ihrem Herzen. Sie redet beruhigend auf ihr wild pochendes Herz ein und nennt es liebevoll "mein kleines dummes Herz". Sisandas Körper ist schwach, aber ihre geistigen Fähigkeiten sind hervorragend. Sie geht gerne in die Schule. Die Schule ist der Ort, an dem sie mit den anderen Kindern mithalten kann. Sie mag lesen und Lieder singen und vor allem liebt sie Mathematik. Zahlen sind ihr Steckenpferd, Sisanda zählt immer wieder und immer weiter, als könnte sie mit der Unendlichkeit der Zahlen der Endlichkeit ihres Lebens entgegenwirken.
    Die Zahlen und ich, wir sind die besten Freunde auf der ganzen Welt. Ich liebe Zahlen! Vielleicht, weil ich mir immer die Zeit damit vertreibe, meinen Herzschlag und die Tage, die ich schon gelebt habe zu zählen... Oder vielleicht auch, weil die Zahlen bis ins Unendliche reichen und nie aufhören. Man kann immer weiterzählen und weiter und weiter... Ohne an ein Ende zu kommen.
    Die Geister der Ahnen
    Das kranke Mädchen verliert niemals den Mut. Und sie erfährt viel Geborgenheit in ihrer Familie. Sisandas Mutter prüft jeden Morgen, ob ihr Kind noch atmet, dann läuft sie los, kilometerweit barfuß über die Hügel. Sie kann nicht sagen, warum sie läuft, aber sie spürt, dass ihr das Laufen Kraft gibt. Alle im Dorf nennen sie Swala, das bedeutet Gazelle. Und Sisanda sagt Maswala, Mamagazelle. Sisandas Großmutter glaubt an die Geister der Ahnen. Wenn Sisanda ohnmächtig ist, murmelt die Großmutter Zaubersprüche, rührt Salben aus Baumrinde an und bittet die Ahnen um Hilfe.
    "Ich glaube, in dieser Geschichte, in meinem Buch 'Mein kleines dummes Herz' gibt es eine einzigartige Gemeinschaft von Frauen. Es gibt eine sehr starke Verbindung zwischen Sisanda, ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Und alle drei tragen an den anderen etwas weiter. Sisanda erfährt von der Großmutter die tradierten Heilrezepte der Ahnen. Und die Lebenslust verdankt Sisanda der Stärke und der Energie ihrer Mutter.
    Laufen für die OP
    Als die Mutter aus einem Zeitungsartikel erfährt, dass ein Marathonlauf in der nächsten großen Stadt den Sieger mit einem hohen Preisgeld ehrt, meldet sie sich an. Es ist ihre Chance, Geld für die Operation zu bekommen. Aus eigener Überzeugung und gegen die Skepsis aller Dorfbewohner macht sie sich auf den Weg, um am Marathonlauf teilzunehmen. Zum ersten Mal in ihrem Leben läuft Swala gemeinsam mit vielen sportlichen durchtrainierten Frauen und sie trägt zum ersten Mal Schuhe. Doch die neu gekauften Turnschuhe sind ihr schrecklich unbequem.
    Maswala bückt sich, zieht hastig die Schuhe aus und schleudert sie weit weg. Onc'Benia zuckt zusammen, als hätte ihn ein Skorpion gestochen. Maswala aber richtet sich auf, geht erst ein paar Schritte und läuft dann barfuß weiter .
    Es geht, soviel sei verraten, gut aus, wenn auch nicht auf geradem Weg. Sisanda wird geheilt, mit der Unterstützung ihrer Familie, vor allem aber durch ihre eigene Intuition, denn sie hat einen guten Kontakt zu ihrem kranken Herzen. Xavier-Laurent Petit erzählt in seinem Kinderbuch „Mein kleines dummes Herz" von einer Region in Afrika, in der das Überleben täglich Willenskraft und Stärke fordert. Die Geschichte berührt und ermutigt Kinder, ihrer eigenen Kraft zu vertrauen. Mit den anmutigen Tiervignetten von Eva Schöffmann-Davidov ist ein Buch voller Lebenslust und Hoffnung entstanden, empfohlen für Kinder ab 8 Jahren.
    Xavier Laurent Petit / Bernadette Ott:
    Mein kleines dummes Herz
    Dressler Verlag, 175 Seiten gebunden, 12,99 Euro, empfohlen ab 8 Jahren