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Yannick Haenel: "Die bleichen Füchse"
Konfrontation mit einer fremden Kultur

Mit seinem Roman "Die bleichen Füchse" hat Yannick Haenel ein aktuelles Thema angeschitten: Die Flüchtlingskrise in Europa. Der Protagonist des Buchs dringt in den Lebensalltag afrikanischer Flüchtlinge im Paris von heute vor. Die französische Hauptstadt steht vor Unruhen.

Von Christoph Vormweg | 09.10.2015
    Flüchtlinge aus Eritrea, Sudan und dem Tschad sitzen auf Pappkartons auf einem schmutzigen Bürgersteig in Paris.
    Flüchtlinge aus Eritrea, Sudan und dem Tschad in den Straßen von Paris im Elend (Deutschlandfunk / Ursula Welter)
    Der französische Schriftsteller Yannick Haenel hat bei uns zum ersten Mal mit seinem Roman über den polnischen Widerstandskämpfer Jan Karski auf sich aufmerksam gemacht. Auch in seinem neuen Roman "Die bleichen Füchse" peilt der 47-Jährige den Kreuzungspunkt von Literatur und Politik an. Sein Thema: Im Paris von heute bereiten Afrikaner aus Mali einen Aufstand vor. Christoph Vormweg hat sich mit Yannick Haenel in Paris über seinen Roman "Die bleichen Füchse" unterhalten.
    Literatur soll in den Augen von Yannick Haenel unbequem sein. Sie soll verunsichern und aufstören, indem sie bewusst die Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Realitäten sucht. Der 47-Jährige, der von Philippe Sollers, dem einstigen Kopf der legendären Avantgarde-Zeitschrift "Tel Quel" entdeckt wurde, forscht in seinen Texten nach Möglichkeiten der Veränderung. Entsprechend provozierend liest sich Yannick Haenels jüngster Roman "Die bleichen Füchse":
    "Kann Sprache wirklich die Welt verändern? Das ist eine sehr alte Frage, die ich versucht habe, noch einmal zu stellen. Der Grund war die zunehmende Entpolitisierung in Frankreich und der westlichen Welt. Das betraf die meisten Leute, die ich kenne - mich inbegriffen. Ich kann sagen, dass ich zwanzig Jahre lang völlig unpolitisch war. Und dieser Roman stellt die Frage, ob wir aus freiem Willen unpolitisch waren oder ob es die Gesellschaft in hinterhältiger Weise an unserer Stelle gewollt hat."
    Zunehmende psychische und physische Isolierung
    Jean Deichel, der Protagonist, ist eine Projektion des Autors. Er taucht bereits in früheren Romanen auf. Anders als Yannick Haenel, der seinen Brotberuf als Französischlehrer 2005 an den Nagel hing, hat Jean Deichel seine Arbeit aber verloren. Der erste Teil des Romans "Die bleichen Füchse" beschreibt detailreich und präzis den Prozess seiner zunehmenden Isolierung: psychisch und physisch.
    "Interessiert hat mich, über ihn die Entwicklung einer ganzen Generation nachzuzeichnen. In "Cercle", dem Roman davor, war er noch ein Held, der glaubte, dass es für ihn möglich sei, den großen europäischen Roman neu zu schreiben. Er dachte, es gebe noch etwas zu erobern, dass eine Form von Freiheit möglich sei, dass er sich öffnen könne für Europa, für die Politik [...]. Im Laufe der Zeit [...] wurden seine Wünsche kleiner. Er verlor nach und nach seine Möglichkeiten, im Leben Erfolg zu haben. Nach und nach hat sich dieser Jean Deichel dahin entwickelt, nichts mehr zu haben: weder Frau noch Familie noch Wohnung."
    Zu Beginn des Romans "Die bleichen Füchse" zieht Jean Deichel in das Auto eines Freundes, der vorübergehend im Ausland arbeitet. Er betrinkt sich mit Künstlern, die Müllhaufen filmen oder Überwachungskameras fotografieren. Doch auch diese Kontakte werden seltener. Seine gesellschaftliche Ausgrenzung verwandelt sich immer mehr zu einer bewussten Selbst-Ausgrenzung. Frei nach der Devise: "Einsamkeit ist politisch". So öffnet Jean Deichel die Augen für ein Paris, das ihm bis dahin unbekannt war: das Paris der illegalen afrikanischen Einwanderer im 20. Arrondissement. Sein Schlüsselerlebnis: Eines Morgens wird er Zeuge, wie ein Mann, der zum Schutz vor der Kälte in einem Abfallcontainer schlief, vom Müllwagen geschluckt und zerkleinert wird. Ein Schock, der Jean Deichel weckt. Er beginnt, die rätselhaften Botschaften wahrzunehmen, die eine Untergrundorganisation auf den Wänden des Stadtviertels hinterlässt. "Die Gesellschaft existiert nicht", heißt es da. Oder: "Identität = Fluch". Dahinter verbirgt sich, wie er bald erfährt, die Philosophie der Emigranten aus Mali.
    "Ich bin fasziniert von den Dogons, weil das ein Volk ist, das Widerstand geleistet hat gegen verschiedene Invasionen und Bekehrungsversuche zum Islamismus, das noch heute mit einem Denk-System lebt, das seit fünf, sechs, sieben Jahrhunderten dasselbe ist. All das um zu sagen, dass ich dieser politischen Gruppe eine uralte Kraft verliehen habe: die spirituelle Kraft der Dogons. Ich habe ihnen den Namen der Gottheit der Rebellion gegeben. Der bleiche Fuchs versucht, sich der Schöpfung in den Weg zu stellen, der Gesellschaft."
    Eine fremde, aber anziehende Welt
    Yannick Haenel verarbeitet auch hier eigene Erfahrungen. Denn als Kind und Jugendlicher verbrachte er viele Jahre in Afrika, wo sein Vater als Militärberater tätig war. Für sein Alter Ego Jean Deichel öffnet sich eine fremde, aber anziehende Welt.
    "Von meinem Gesichtspunkt als weißer Europäer konnte ich mich aber schwerlich in diese kleine politische Sekte hineinstehlen, ohne eingeweiht zu werden. Denn alle spirituellen Fragen setzen eine Initiation voraus. Ich musste mein Buch also als einen Initiationsprozess anlegen. Ich habe die Geschichte dieses Jean Deichel [...] so erzählt, dass er sich dieser Gruppe nach und nach annähern kann, dass er sie, nachdem er seine Prüfungen absolviert hat, verstehen kann und von dieser Gruppe, die sich "Die bleichen Füchse" nennt, akzeptiert wird. Das Buch ist in seinem ersten Teil also eine relativ klassische Erzählung eines Umherirrens durch das nächtliche Paris von heute rund um den Père-Lachaise."
    Die Konfrontation mit der fremden Kultur verleiht Jean Deichels Selbsterkundung die innere Spannung. Doch wirkt sein sensibel beschriebener Initiationsprozess auf die Dauer arg konstruiert. So liest unser vereinsamter Autobewohner immer zur rechten Zeit die richtigen Texte: erst Samuel Beckett, dann Jean-Jacques Rousseau. Und die Liebe zur schrägen Anna, der sogenannten "Königin von Polen", bringt ihn zu Karl Marx und seinem Kommentar zum Aufstand der Pariser Commune 1871. Da muss sich der erste Sex ganz ohne Besitzergreifen natürlich auf dem Friedhof Père Lachaise abspielen, unweit der Stelle, wo es zum Massaker an den Kommunarden kam. Im zweiten Teil des Romans "Die bleichen Füchse" folgt dann der politische Zeigefinger. Denn Jean Deichel hat seine neue Heimat gefunden.
    "Das ist das Thema des Buches: Er löst sich, weil er nicht mehr an seine eigene Identität glaubt, völlig in einer revolutionären Gruppierung auf, im "wir", in der Gemeinschaft. Er geht vom Spielraum des "ich" zum "wir" über. Für mich war das eine Möglichkeit, die Grenzen des individuellen Bewusstseins zu erkunden, um zu wissen, ob man sich in einer Gruppe auflösen kann - und ob das gut ist. Denn das ist ja nicht sicher. [...] Man kennt ja die politischen Katastrophen, zu denen es geführt hat, sich völlig im Kollektiv aufzulösen. [...] So gern Jean Deichel zwanzig Jahre zuvor ein Held gewesen wäre, ein Held der westlichen Welt [...], so sehr sucht er da nur noch den Moment. [...] Und er wird einen Lebenssinn in der Zukunft finden, in der maskierten Zukunft."
    Teil zwei des Romans ist die Verkündung des Manifests der "bleichen Füchse". Ein Trauerzug für zwei Willküropfer der Polizei verwandelt sich in eine Großdemonstration Maskierter. Die Klagen des "wir" visieren eine ausgrenzungsgierige Gesellschaft, den Verlust jeglicher Moral und scheinheilige Politiker, die nur noch in ihre eigenen Taschen wirtschaften. So begründet die Klagen sind, so spannend der Verlauf der Demonstration, die Paris in ein Maskenmeer verwandelt – Yannick Haenel verspielt hier mit revolutionärer Verbalromantik einen sehr vielversprechenden Romanstart.
    Yannick Haenel: Die bleichen Füchse. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014. 18,95 Euro.