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Yiyun Li: "Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines"
Essays über Herkunft und Heimat

Nach zwei Suizidversuchen findet die chinesisch-amerikanische Autorin Yiyun Li ins Leben zurück. In ihren Essays "Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines" denkt sie über Herkunft und Heimat nach. Aus dem Gefühl, in einem Dazwischen zu leben, entwickelt sie neue Lebenskraft.

Von Katharina Borchardt | 22.06.2018
    Buchcover: Yiyun Li: "Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines"
    Buchcover: Yiyun Li: "Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines" (Buchcover: Hanser Verlag, Foto: Hinrich Bäsemann/dpa)
    Im Jahr 2012 erlebte Yiyun Li einen Zusammenbruch. Zweimal versuchte sie, sich umzubringen. Zweimal kam sie ins Krankenhaus. In der Zeit danach, einer Zeit noch unzuverlässiger, nicht sinnhaft erfahrener und doch langsam wieder zunehmender Stabilität, las Yiyun Li viel. Ein ganzes Jahr lang tat sie kaum etwas Anderes, schreibt sie in ihren nun erschienenen Essays. Am liebsten las sie die Biographien anderer Autoren, ihre Briefe und ihre autobiographisch grundierten Schriften. Und sie fragte sich:
    "Was gewinnen wir, wenn wir das Leben eines Fremden kennenlernen wollen? Wenn wir die Aufzeichnungen einer Person lesen, wenn wir ihre privatesten oder verletzlichsten Augenblicke mit ihr erleben und wenn ihre Worte eloquenter über unsere eigenen Gefühle sprechen, als wir es vermögen, können wir sie dann immer noch als fremd bezeichnen?"
    Eine Frage, die sich auch angesichts von Lis eigenen Essays stellt. Denn darin lernen wir die Autorin kennen, die sich als stark verkapselt beschreibt, in ihren Texten aber sehr anwesend wirkt. Nicht chronologisch, sondern assoziativ in ihre Reflexionen eingebunden erzählt die heute 45-Jährige von Momenten ihrer Lebensgeschichte: wie sie in Peking aufwuchs, zur Schule ging und danach ihren Militärdienst absolvierte. Sie studierte zunächst in Peking, ging 1996 in die USA und schloss dort ihr Studium im Fach Immunbiologie ab.
    "Das Wort immun […] ist eins meiner Lieblingsworte im Englischen, Immunität – gegen Krankheit, Dummheit, Liebe, Einsamkeit, quälende Gedanken und nicht zu lindernde Schmerzen – ist eine Eigenschaft, die ich mir für meine literarischen Gestalten und für mich selbst gewünscht habe, wohl wissend, dass der Wunsch vergeblich ist: Nur die Leblosen sind immun gegen das Leben."
    Intensives Nachdenken über das Leben
    Auch wenn Yiyun Li aus dem Leben scheiden wollte: Müde oder sogar lebensmüde klingen weder ihre Romane und Erzählungen noch ihre neuen Essays. Im Gegenteil: Auf intensive Weise denkt sie in ihren neun Texten über das Leben nach und befindet sich dabei stets im Zwiegespräch mit anderen Autoren, deren Texte sie liest und in Auszügen zitiert. Allein ist sie in ihren Essays daher nicht, denn Katherine Mansfied und Virginia Woolf sind bei ihr, John McGahern und Stefan Zweig, Elizabeth Bowen und Jane Austen, Iwan Turgenjew und William Trevor. Es sind großteils englischsprachige Autorinnen und Autoren. Ihre Gesellschaft sucht Yiyun Li, die selbst nicht auf Chinesisch schreibt, sondern auf Englisch. In der Auswahl ihrer Gesprächspartner zeigt sich fast unbemerkt eine Verwurzelung in der englischen Sprache. Außerdem öffnet sich Li darin aus tiefster Verschlossenheit und erlebt einen durchaus heilsamen Gedankenaustausch.
    "Eine Zeitlang las ich Katherine Mansfields Tagebücher, um mich abzulenken. 'Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines', schrieb Mansfield in einem Eintrag. Ich musste weinen, als ich diese Zeile las. Sie […] erinnert mich auch daran, warum ich nicht aufhören will zu schreiben: Sagen die Bücher, die man schreibt […], nicht das Gleiche: Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines. Was für ein langer Weg es ist von einem Leben zu einem anderen."
    Mansfields Tagebuchzeile gab Lis Essayband schließlich den Titel. Er passt gut, schickt Li ihre Texte doch auch in die Leben ihrer Leser. Nie klingen diese Texte hermetisch oder ihr Zwiegespräch mit anderen Autoren exklusiv: Immer ist der Leser eingebunden in den Denkprozess und kann nicht anders, als mitzudenken und sich viele wichtige Fragen auch selbst zu stellen. Lis Texte regen an. Sie besitzen gedankliche Tiefe, meditativen Ernst und sprachliche Klarheit.
    "Die zwei Jahre, die ich daran geschrieben habe, waren voller Ambiguitäten. Sätze und Absätze wurden geschrieben und unter anderen Umständen neu geschrieben, Argumente wurden neu ausgerichtet, Gedanken revidiert; für die meisten Essays brauchte ich ein Jahr oder länger. Mein Streben galt nicht Kohärenz und Widerspruchsfreiheit."
    Unsichtbar sein als prägendes Gefühl
    Von Text zu Text vertraut Yiyun Li dem Leser mehr Details aus ihrem Leben an: Das reicht vom Aufwachsen mit einer schwerstneurotischen Mutter und einem fatalistisch gestimmten Vater in Peking über ihre Reisen, z.B. zu einem Literaturfestival in Irland, bis hin zu ihren Klinikaufenthalten. Die eigene Familie – Mann und zwei Söhne –erwähnt sie gelegentlich, bleibt aber sehr diskret. In ihren Erinnerungen plaudert Li nicht aus dem Nähkästchen, sondern umkreist Begriffe, Stimmungslagen und Themenfelder, die in all ihren Essays wiederkehren. Unsichtbar sein ist eines der prägenden Gefühle in ihrem Leben. Deshalb fühlt sie sich auch schon ihr ganzes Leben lang so wohl unter fiktiven Figuren, die die Anwesenheit der Leserin nicht bemerken. Ihnen kann sich Li quasi inkognito nähern, erzählt sie und erinnert sich dabei an erste Leseerlebnisse in China, an Aushilfsdienste in der Schulbibliothek und auch an ihre Erfahrungen als Autorin. Dazwischen sein ist ein weiteres Gefühl, das in Yiyun Lis Leben fundamental ist. Wenn irgendwo ein eindeutiges Vorher-Nachher behauptet wird, wie etwa in amerikanischen Zeitschriften, ist Li so befremdet wie fasziniert, schreibt sie:
    "Mein Lieblingsbeitrag befand sich auf der letzten Seite und behandelte stilistische Umwandlungen von berühmten Persönlichkeiten – Frisur und Haarfarbe zum Beispiel –, illustriert mit jeweils einem Bild vorher und nachher. Meistens hatte ich keine Meinung zu der Veränderung selbst, doch mir gefiel die Bestimmtheit der Ausdrucksweise, vorher und nachher, bei der nichts das Dazwischen verunstaltete."
    In der Lücke des Dazwischens
    Li selbst fühlt sich dem Dazwischen sowohl verbunden als auch ausgesetzt. Für sie ist die Gegenwart eine stete Prüfung, die zwischen einer verzerrt erinnerten Vergangenheit und einer noch unbestimmten Zukunft liegt. Auch der Übergang von einer Sprache in eine andere ließ Li ein Dazwischen erleben. Zudem favorisiert sie das Melodrama als literarische Form, aber auch als Lebenshaltung, wie sie in einem Essay beschreibt. Denn es oszilliert zwischen eindeutigeren Formen wie Komödie und Tragödie. Eindeutigkeit ist weder erreichbar noch wünschenswert, nicht im Leben und auch nicht in der Literatur, findet Li. Um diese Lücke des Dazwischens für sich zu schützen, kehrte sie der Wissenschaft den Rücken und wurde Autorin.
    Ein handfestes Narrativ über die eigene Person zu verfassen ist unmöglich. Deshalb versucht Yiyun Li mit ihren Essays auch nicht, eine konsistente Autobiographie zu entwerfen. Stattdessen verflicht sie persönliche Erinnerungen, aktuelle Lektüren und eigenes Nachdenken zu einem offenen Diskurs, an dem jeder Leser teilhaben kann. Ein Ende des Nachdenkens intendiert sie nicht, und das macht dieses konzentrierte Buch so bedeutsam. Es zeugt von der lebenserhaltenden und belebenden Kraft des Lesens und des Denkens.
    Yiyun Li: "Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines"
    aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube
    Hanser Verlag, München. 208 Seiten, 22 Euro.