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Ypern in Belgien
Synonym für den Giftgaskrieg

Wer in Flandern vom "großen Krieg" spricht, meint immer den Ersten Weltkrieg. Vor allem im belgischen Ypern ist die Erinnerung präsent. Die Stadt kam zu trauriger Berühmtheit, weil dort im April 1915 erstmals Giftgas als Waffe eingesetzt wurde.

Von Eva Firzlaff | 19.04.2015
    25.644 Soldaten liegen auf dem Soldatenfriedhof Vladslo im belgischen Ypern begraben.
    25.644 Soldaten liegen auf dem Soldatenfriedhof Vladslo im belgischen Ypern begraben. (dpa / picture-alliance / Thierry Monasse)
    Ypern in Belgien: Die lange Front der Tuchhallen dominiert den großen Markt. Vom Belfried, der den riesigen gotischen Bau überragt, tönt das Glockenspiel. Ja, Ypern war mal eine reiche Stadt, erzählt Petra Delvaux: "Ypern ist im frühen Mittelalter entstanden und war im 14. Jahrhundert. eine sehr reiche Stadt durch den Tuchhandel. War reicher als Brügge, wodurch wir auch die schönen Gebäude hier haben."
    Die Gebäude am dem Großen Markt und in den angrenzenden Gassen wirken wie aus dem 16./17. Jahrhundert. Ein paar Straßen weiter Jugendstil. Wer nicht die alten Fotos im Museum sieht, der glaubt es nicht: Ypern war völlig zerstört. Winston Churchill hatte vorgeschlagen, das Trümmerfeld als Mahnmal liegen zu lassen. Doch die Einwohner kamen zurück und bauten ihre Stadt nach alten Plänen wieder auf.
    Erster Gasangriff der Geschichte
    In den Tuchhallen ist jetzt das In Flanders Fields Museum. Hier geht es nicht darum, wann welcher Hügel eingenommen wurde, nein, es sind die Menschen, und wie sie den Krieg erlebt haben. Auf etlichen Monitoren sind Schauspieler zu sehen, die Soldaten verkörpern, deren Tagebücher oder Briefe gefunden wurden, zum Beispiel den deutschen Pionier Willi Siebert, er hatte die Folgen des ersten Gasangriffs im April 1915 beschrieben:
    "Nach einiger Zeit klärte sich die Luft und wir liefen an den leeren Gasflaschen entlang. Was wir sahen, war Tod. Nichts bewegte sich und nichts lebte mehr. Sogar das Ungeziefer war aus den Höhlen herausgekrochen, um zu sterben. Der Gasgeruch hing in der Luft, der blieb an den wenigen Sträuchern, die noch standen, haften. Die französischen Schützengräben waren leer, aber auf den folgenden hundert Metern lagen überall Leichen von erstickten Franzosen. Es war furchtbar. Dann sahen wir auch die Briten. An ihren zerkratzten Gesichtern und Hälsen konnten wir gut erkennen, dass sie verzweifelt versucht haben, Luft zu bekommen."
    Briten und Franzosen hatten keine Gasmasken
    Nur die deutschen Truppen waren auf das Gas vorbereitet, die anderen hatten noch keine Gasmasken. Später wurde von allen Seiten Giftgas angewandt, dann haben sogar die Pferde Gasmasken getragen. Ypern wurde zum Synonym für den Giftgaskrieg. Senfgas heißt seitdem auch Yperit.
    Ja, wir erfahren auch militärische Details, der Krieg wird in seine Zeit und das gesellschaftliche Umfeld eingeordnet. Doch gerade diese persönlichen Schilderungen brennen sich ein, viel mehr als die unfassbaren Opferzahlen.
    "Der Krieg hat ein Gesicht. Man sieht Namen, Familien, Soldaten. Es sind Fotos von toten Soldaten nach dem Gasangriff. Ich habe ein Personaldokument eines irischen Soldaten, wo der tödliche Schuss durch das Foto seiner Familie gegangen ist, der also nie wieder zu seiner Frau und seiner Tochter zurückgekommen ist. Geht unter die Haut." Jeder britische Jugendliche fährt in seiner Schulzeit mindestens einmal nach Ypern. Deutsche Gäste jedoch kommen selten. Auch auf dem deutschen Soldaten-Friedhof Vladslo bin ich allein mit Peter Demaree: "Einer der größten in Westflandern. Es gibt vier Gräberstätten in Westflandern. Nach dem Ersten Weltkrieg waren das mehr als 100, wie jetzt noch die britischen. Aber 1956 ungefähr hat man all die Stätten zusammengebracht in nur vier große Stätten. Und hier liegen ungefähr 25.600 Soldaten vom 1. Weltkrieg. Es ist sehr schwer, mit Worten auszudrücken, was man hier sieht. Aber, das soll man erleben bei einem Besuch auf diesem Friedhof."
    Steinplatten mit jeweils 20 Namen
    Auf einer großen Wiese, im Schatten hoher Laubbäume liegen in langen Reihen unendlich viele graue Steinplatten mit jeweils 20 Namen. An einer Seite die
    Skulpturen von Käthe Kollwitz - das trauernde Elternpaar. Beide knien. Der Vater aufrecht mit verschlossenem Gesicht, die Arme schützend um den Körper gelegt. Die Mutter gebeugt, in Gram versunken, trägt die Züge von Käthe Kollwitz. Auf einer der Platten steht der Name ihres Sohnes Peter. Durch das Yperner Umland führt die Friedensroute und verbindet frühere Schützengräben, die jetzt kleine Gedenkstätten sind, Kriegsorte und Soldatenfriedhöfe, kleine und große.
    Ich bin mit Jacques Mineaux unterwegs. Am Nordrand der Stadt war die Straße rechts des Kanals deutsche Stellung, die Böschung links englische. Nur wenige Schritte vom Kanal entfernt, stehen kleine Bunker, in diesen war ein Verbandsplatz: "In englischer Sprache heißt es advanced dressing station. Das meint in deuutscher Sprache: Spital unmittelbar am Schützengraben. Das ist die erste Form der Versorgung. Geht es nicht gut, dann geht man ein bisschen weiter in ein Spital. Ja, und wenn es wirklich, ja dann kommt man auf den Friedhof. Die ganze Geschichte von den Jungen ist hier. Von den Deutschen auf der anderen Seite und für die Briten hier."
    Mohnblumen auf den Gräbern
    Zum englischen Friedhof sind es wieder nur ein paar Schritte. Lange Reihen weißer Grabsteine, dazwischen ein buntes Blumendurcheinander.
    In dem kleinen Bunker-Lazarett war der kanadische Arzt John McCrae eingesetzt und hat dort das berühmte Gedicht "In Flanders' Fields" geschrieben.
    Mineaux: "Er war hier und da war noch jemand bei ihm. Da hat er die andere Person gefragt: Was ist das rote am Horizont? Und der hat gesagt: Das sind Mohnblumen. Und dann hat er ein Stück Papier genommen und angefangen seine Poesie zu machen. In den Feldern von Flandern, wo die Kreuze sind, wo die ganzen Reihen mit Toten liegen. Doch das fand er nicht so gut und er hat das Papier weggeworfen. Aber der andere hat es genommen und gesagt: Das ist wunderschön."
    McCraes Gedicht:
    Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn
    Zwischen den Kreuzen, Reihe um Reihe,
    Die unseren Platz markieren; und am Himmel
    Fliegen die Lerchen noch immer tapfer singend
    Unten zwischen den Kanonen kaum gehört.
    Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch
    Lebten wir, fühlten den Morgen
    und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang.
    Liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir
    Auf Flanderns Feldern.
    Eine stilisierte rote Mohnblüte wurde zum Friedenssymbol von Ypern. Nach ewigem Stellungskrieg hatten die Briten eine neue Idee, doch auch die brachte keine Wende. Wir sind auf "Hill 60" - Höhe 60. Mineaux: "Die Briten haben Bergarbeiter kommen lassen aus Nordthumberland und Australien. Die fangen an, Tunnelsysteme zu machen. Auch von dem Haus hier - ein oder zwei Kilometer unter den deutschen Positionen. Und am 7. Juni 1917 an 24 verschiedenen Plätzen im selben Moment um 4.00 Uhr morgens ließ man die 24 Positionen in die Luft fliegen."
    Ein schmaler Weg führt in den Wald, zu einer Senke mit einem kreisrunden Teich. "In der Mitte das Wasser, das ist das Ende von einem der 24 Tunnel. Das hier war die beste deutsche Position, in der Mitte waren Betonbunker. Und an diesem Morgen sind alle Bunker und Soldaten in die Luft gegangen. Sie sehen nun, wie ruhig es ist."
    Der Krieg zerstörte die Landschaft
    Fast eine Idylle, wären da nicht noch ein paar Betonbrocken, über die Grün wuchert. Mir fallen die Fotos im Museum ein, Fotos von leerer Landschaft mit kahlen zerlöcherten Stämmen ohne Äste oder gar Laub: "Alles was wir hier sehen, ist neu. Wenn wir hier Wälder sehen, die sind in den 1920er- und 1930er-Jahren gepflanzt. Das macht es nun schön grün und eine gute Natur. Aber im Krieg hatte man keine Landwirtschaft mehr, keine Häuser mehr, keine Bäume mehr. Nichts."
    Abends in Ypern. Zapfenstreich unter dem Menentor. Einige hundert Gäste und Einwohner sind gekommen. Soldaten, Schulkinder, betagte Besucher aus der Ferne legen Kränze nieder. Jeden Abend kommen andere, manche immer wieder, jeden Abend um 20 Uhr: "Nach dem Ersten Weltkrieg hat das Commonwealth das Tor errichtet und seitdem, seit 1927 wird jeden Abend ein letzter Gruß unter dem Tor geblasen - von der Yperner Feuerwehr. Nur während des Zweiten Weltkriegs war es unterbrochen." Das riesige Tor an der Stelle eines früheren Stadttores wirkt wie ein antiker Triumphbogen. In sämtliche Wandflächen sind Namen eingraviert: englische, irische, kanadische, australische, neuseeländische, indische. 80.000 Namen nur der Vermissten, nur aus dem Commonwealth, nur bis 1917, dann war das Tor voll. Weitere 30.000 Namen stehen auf einer Mauer am Tyne Cot Cemetery. Alte Bunker neben Gehöften, kleine Skulpturen an Radwegen und in den Orten, Info-Tafeln, Soldatenfriedhöfe - die Erinnerung an den Krieg ist rund um Ypern allgegenwärtig: "Wir wollen keine Helden machen. Wir wollen sagen: wir wollen das nicht mehr."