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Zäher Pessimist

Dem vor 150 Jahren in Frankfurt gestorbenen Arthur Schopenhauer, der die meiste Zeit als Privatgelehrter zubrachte, prägte eine zutiefst pessimistische Grundhaltung, der er selbst mit einer Ethik des Mitleids vergeblich zu begegnen versuchte. Die neueren Editionen zu Schopenhauer versuchen indes, diesen resignativen Grundzug zu relativieren.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 20.09.2010
    Ist das Leben nicht der Mühen wert? Besteht es primär aus Leiden und Langeweile? Das Denken Arthur Schopenhauers durchzieht ein Pessimismus, der sich besonders in seinen Äußerungen Über den Tod spiegelt, wenn er beispielsweise schreibt:

    Jeder einzelne kommt "mit Bewusstsein in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzen Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat."
    Woher stammt ein solcher fataler Pessimismus? Schopenhauer ist weder wie Nietzsche Pfarrerssohn, noch beseelt seinen Vater ein tiefes religiöses Schuldbewusstsein wie im Fall von Kierkegaard. Beider Väter sind Kaufleute und hinterlassen ihren Söhnen gewisse Vermögen. Doch während es bei Kierkegaard nur für etwa 15 Jahre reicht und er daraufhin im Alter von 42 Jahren 1855 prompt stirbt, wird das Erbe Schopenhauer ein unabhängiges Leben eines reichen Bürgers bis ins hohe Alter von 72 Jahren ermöglichen.

    Seine Eltern entstammen aufgeklärten und weltoffenen Kaufmannsfamilien aus der Freien Hansestadt Danzig, die sich damals noch unter dem Schutz des polnischen Königs stehend gegen preußische Begehrlichkeiten wehrt. 1793, kurz bevor Danzig von Preußen angeschlossen wird, siedelt die Familie nach Hamburg über. Robert Zimmer schreibt in seiner Biografie über Schopenhauers gebildete Mutter:

    So weigerte sie sich (...) im Jahre 1787, in Bad Pyrmont die Bekanntschaft der Herzogin von Braunschweig zu machen, weil von ihr als bürgerlicher Frau der Kniefall erwartet wurde. Den republikanischen Stolz, vor niemandem die Knie zu beugen, übernahm der Sohn von beiden Eltern. Im Umgang mit Autoritäten hat Arthur Schopenhauer immer jene selbstbewusste Renitenz gezeigt, die seine Eltern ihm vorgelebt haben.
    Zimmers Buch geht weniger auf Schopenhauers Werk ein als Rüdiger Safranskis 1987 zum 200. Geburtstag erschienene, umfänglichere Monografie, die der Hanser-Verlag jetzt in zweiter Auflage, aber unverändert ediert. Doch beide Bücher entwickeln Schopenhauers Denken aus seinem Leben und seinem Umfeld heraus.

    Nach dem Tod des Vaters 1805 bricht der Sohn die begonnene Kaufmannslehre ab und wendet sich der Philosophie zu. 1819 erscheint sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Er erhält eine Dozentur an der Universität Berlin, die aber im Schatten des damals übermächtigen Hegel bleibt.

    Bis weit in die vierziger Jahre hinein findet auch sein Werk wenig Beachtung sowohl im gebildeten Publikum, aber vor allem innerhalb der Universitätsphilosophie. Schopenhauers damalige Lage beschreibt Safranski an einem treffenden Beispiel:

    Im März 1844 war die zweite, auf zwei Bände erweiterte Ausgabe des Hauptwerkes erschienen. Der Verleger hatte sich zunächst gesträubt, zuletzt aber doch nachgegeben. Schopenhauer indes musste auf das Honorar verzichten. (...) Als Schopenhauer im August 1846 nach dem Absatz seines Werkes fragt, erhält er von Brockhaus die Antwort: "(Ich kann) Ihnen zu meinem Bedauern nur sagen, dass ich damit ein schlechtes Geschäft gemacht habe, und die nähere Auseinandersetzung erlassen sie mir wohl."

    Doch Schopenhauers bis dahin relativ vergeblichen Kampf um Anerkennung kann man schwerlich für seinen Pessimismus verantwortlich machen. Denn diesen formuliert er schließlich bereits in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Eher erklären die Inhalte seiner Philosophie diese mangelnde Resonanz. 1819 hatte die Romantik das Zeitalter der Aufklärung längst beendet. Immanuel Kants Versuch, die subjektiven Grenzen der Vernunft zu bestimmen, wurde gleich von zwei Seiten aufgelassen: Idealistisch erweiterte man die Vernunft auf der Ebene des Geistes wieder ins Unendliche und Grenzenlose. Materialistisch situierte man sie in der Welt der erfahrbaren Dinge. Ob idealistisch oder materialistisch, derart kann sich die Vernunft selbst wie die Welt vollständig durchschauen und beherrschen, sodass der technische und der soziale Fortschritt keine Grenzen mehr zu kennen scheinen.

    Schopenhauer dagegen hält an Kants Unterscheidung von Subjekt und Objekt fest, wenn er schreibt:

    Die Welt als Vorstellung (...) hat zwei wesentliche, notwendige und untrennbare Hälften. Die eine ist das Objekt (...) Die andere Hälfte aber, das Subjekt. (...). Jede von beiden hat nur durch und für die andere Bedeutung und Dasein, ist mit ihr da und verschwindet mit ihr.
    Der Mensch als Subjekt erkennt Gegenstände in der Welt als Objekte durch Vernunft, die aus den Objekten erst Objekte, nämlich bestimmte Vorstellungen für das Subjekt macht. Das Subjekt ist in der Erfahrungswelt die Bedingung aller Erkenntnis, die dadurch aber auch eine gewisse Beschränkung erfährt. Das Ding an sich, bemerkte Kant, wird vom Subjekt niemals erfasst. Es bleibt bei einer subjektiven Vorstellung eines Gegenstandes. Das Ding an sich als unhintergehbare Grenze der Erkenntnis gibt es dagegen weder bei Hegel noch bei Marx.

    Doch Schopenhauer beschränkt die Vernunft nicht allein durch dieses unerfassbare und unhintergehbare Ding an sich. Der Mensch begegnet dem Ding an sich nämlich bei sich selbst. Kant dachte dabei nur an einen geistigen Prozess. Nach Schopenhauer trifft der Mensch auf das Ding an sich in seinem eigenen Leib, der sich bewegt, weil er etwas will. So schreibt er:

    Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet. Jeder wahre Akt seines Willens ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes.
    Einerseits erfährt der Mensch als Subjekt die Welt als vorgestellte Objekte, sodass er sich selbst auch als ein einzelnes Objekt, ein Individuum unter vielen erlebt. Andererseits erfährt er sich selbst als einen Willen, den die Vernunft gerade nicht beherrscht, der vielmehr die Vernunft antreibt, sich der Vernunft bedient. Mehr als das kann die Vernunft über diesen Willen, dieses Ding an sich, auch nicht sagen. Das Verhältnis von Wille und Intellekt bestimmt Volker Spierling in seinem kleinen Schopenhauer-Lexikon, das gut verständlich Begriffe und Kontexte erläutert, folgendermaßen:
    Schopenhauer entwirft im Ansatz eine neuartige Psychologie des Unbewussten. Sie baut auf das Primat des Willens und die untergeordnete Stellung des Intellekts auf. (...) Den springenden Punkt (...) bringt Schopenhauer (...) sehr schlicht auf die kleine Formel: 'Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein.' – Sigmund Freud weist darauf hin, dass der 'große Denker Schopenhauer' einer der 'Vorgänger' der Psychoanalyse ist.
    Damit bringt Spierling auf den Punkt, worin der Pessimismus Schopenhauers gründet. Schopenhauer ist weder ein Gegner der Aufklärung noch der Vernunft. Er erkennt nur früher als andere deren Grenzen, die nicht wie bei Kant in der Vernunft selbst liegen, sondern in einem Anderen der Vernunft, das Nietzsche als Willen zur Macht interpretieren wird und das Freud als Trieb und Unbewusstes diagnostiziert. In einer Zeit, in der man aber noch an die Beherrschbarkeit der Welt glaubte, stellte diese Einsicht eine tiefe Kränkung des Selbstbewusstseins dar, der Schopenhauer selbst unterlag. Wenn ein dunkler Wille, den Schopenhauer auf die ganze Natur ausdehnt, den Menschen bestimmt, dann sieht sich das Individuum diesem ausgeliefert. Die Erfahrungen von Krankheit, Tod, Aggression und Krieg bestätigen diese Konzeption und führen in eine resignative Haltung.

    Das passt zunächst nicht in den optimistischen Geist des 19. Jahrhunderts. Schopenhauers Ruhm beginnt denn auch erst mit den Aphorismen zur Lebensweisheit, die Anfang der 1850er-Jahre erscheinen. Sie suchen nach Wegen, wie man unter Bedingungen des Leidens nicht völlig resignieren muss, sondern noch ein kleines Glück finden kann. Daran schließt sein letztes von zahlreichen Manuskriptbüchern mit Notizen an, das Schopenhauer von 1852 bis zu seinem Tod unter dem Titel Senilia schreibt. Darin heißt es kurz vor seinem Tod programmatisch:

    Jeder Tag ist ein kleines Leben, – jedes Erwachen und Aufstehn eine kleine Geburt, jeder frische Morgen eine kleine Jugend und jedes zu Bette gehen und Einschlafen ein kleiner Tod.
    Dieser philologisch äußerst exakte Band steht in einem gewissen Kontrast zur gleichzeitig bei C.H. Beck erschienenen Textsammlung Über den Tod, der dazu lesebuchartig die wichtigsten Stellen aus Schopenhauers Werken versammelt. Herausgegeben wird dieses Bändchen von Ernst Ziegler und lässt sich einer von Franco Volpi ebenfalls bei C.H. Beck edierten Reihe der Werke Schopenhauers zuordnen. Ziegler und Volpi, der einer der großen Vermittler zwischen der italienischen und deutschen Philosophie war, geben zusammen auch die Senilia heraus. Im Vorwort dazu schreibt Franco Volpi, der – man denke an Albert Camus – 2009 im Alter von 57 Jahren auf dem Fahrrad von einem Auto tödlich erfasst wurde:

    Die Schlussfolgerung unseres zähen Pessimisten <schopenhauer> – letztlich ein gut unterrichteter Optimist – ist ziemlich einfach: 'Man muss nur hübsch alt werden; da gibt sich Alles.'</schopenhauer>

    Bücherliste:

    - Arthur Schopenhauer: Senilia – Gedanken im Alter, hg. v. Franco Volpi, Ernst Ziegler (C.H. Beck München)

    - Arthur Schopenhauer: Über den Tod – Gedanken und Einsichten über letzte Dinge
    hg. v. Ernst Ziegler (Beck'sche Reihe, München)

    - Volker Spierling: Kleines Schopenhauer Lexikon (Reclam Verlag, Stuttgart)

    - Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer – Ein philosophischer Weltbürger
    (dtv premium, München)

    - Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie – Eine Biografie (Carl Hanser Verlag, München)