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Zahl der Vertreibungsopfer ist neu zu erforschen

Es ist ein heikles Thema: Sind nun in Folge von Flucht und Vertreibung gut zwei Millionen Menschen ums Leben gekommen, wie die amtlichen Zahlen aus den 50er Jahren behaupten, oder waren es "nur" eine halbe Mio., wie der Historiker Ingo Haar zu beweisen versucht? Der Militärhistoriker Rüdiger Overmans, Experte auf dem Gebiet der Weltkriegsopfer, hat nachgerechnet.

Von Rüdiger Overmans | 06.12.2006
    Sind nun in Folge von Flucht und Vertreibung gut zwei Millionen Menschen ums Leben gekommen oder waren es "nur" eine halbe Million, wie der Historiker Ingo Haar behauptet? Die Antwort ergibt sich, wenn man die beiden Angaben näher untersucht. Die Zahl von gut zwei Millionen ist das Ergebnis von Bevölkerungsbilanzen, die in der Nachkriegszeit erstellt worden sind. Ausgehend vom Stand der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten zog man die Verluste unter den Soldaten, die in den Vertreibungsgebieten zurückgebliebenen und die nach Westen vertriebenen Deutschen ab. Der Rest, der Saldo, wurde dann als die Summe der Toten interpretiert, obwohl es sich exakt formuliert zunächst nur um die Summe der ungeklärten Fälle handelte. Fragt man hingegen, wie viele Todesfälle aufgrund der zahlreichen Registrierungen und Nachforschungen in der Nachkriegszeit nachgewiesen oder zumindest plausibel gemacht sind, dann kommt man auf ca. 500.000. Diese Zahl zu verwenden, erfordert allein schon das Gewissenhaftigkeitsgebot: Unklare Fälle harren der Erklärung, nur Tote sind als Tote zu zählen.

    Folgendes Beispiel mag diesen Sachverhalt verdeutlichen. Die Vertreibungsbilanzen gehen im Fall Jugoslawiens von ca. 100.000 bis 130.000 ungeklärten Fällen aus, wobei nur 55.000 Todesfälle plausibel nachgewiesen sind. In den 90er Jahren unterzog die Landsmannschaft der Jugoslawien-Deutsche sich der Mühe, alle Opfer namentlich zu erfassen. Dabei stellte sie fest, dass sich deren Zahl auf 60.000 beläuft. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden in zwei umfangreichen Bänden veröffentlicht, sind aber eigentlich nicht von der Öffentlichkeit rezipiert worden.

    Diese mangelnde Rezeption weist auf ein zentrales Problem hin. Funktionären wie der Vorsitzenden des Vertriebenenverbandes, Frau Steinbach, oder Politikern, wie dem Staatssekretär im Innenministerium, Christoph Bergner, kann es nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn sie sich als Laien auf die Angaben berufen, die sich in allen einschlägigen Standardwerken finden. Es sind die Fachwissenschaftler, die bisher der Zahlendiskussion aus dem Weg gegangen sind, obwohl es seit den 50er Jahren immer wieder ernstzunehmende Zweifel an den geläufigen Angaben gegeben hat. Dahinter steht eine Mentalität, die Bundespräsident Roman Herzog 1995 so ausdrückte: "Menschliches Leid kann nicht saldiert werden, es muss überwunden werden. Diese Mahnung richte ich auch an die historischen Laien, die sich noch heute um die Zahl der Opfer streiten... Diese Sprache führt nicht einen Schritt weiter." Leider hält sich die Realität nicht an diese idealistische Vorgabe. Zahlen werden politisch genutzt, insbesondere, wenn sie unsicher sind. Hierzu nur zwei Beispiele: Die Unklarheiten über die Verluste bei den Bombenangriffen auf Dresden Anfang 1945 erlauben es den Rechtsradikalen, vom "Bombenholocaust" zu reden. Dieser Behauptung könnte wirksam entgegen getreten werden, wenn die Sachfrage geklärt würde. Schließlich wurde auch die Zahl der ermordeten Juden lange heftig diskutiert, bis Wolfgang Benz dann 1991 sein Werk "Dimension des Völkermords" heraus brachte und die Diskussion beendete - zumindest unter denjenigen, die rationalen Argumenten zumindest begrenzt zugänglich sind. Die Diskussion über die Zahl der Opfer bei Flucht und Vertreibung kann daher nicht im Streit mit Frau Steinbach oder Herrn Bergner, sondern nur durch eine Untersuchung von Fachleuten beendet werden, die in der alle Argumente bedacht werden.