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Zahlen-Zynismus

Aus Japan hört man zur Zeit von 50 heldenhaften Männern, die versuchen die Atomkatastrophe einzudämmen. Von den mehr als 16.000 Todesopfern der Tsunamiwelle allerdings wenig. Anmerkungen von Burkhard Müller-Ullrich zum Zahlen-Zynismus.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 18.03.2011
    Journalismus ist ein zynisches Geschäft. Es ist dem Unheil verbunden und niederen Trieben verpflichtet. Nachrichten sind meistens Schreckensnachrichten. Gemeldet wird nicht, was alles gut geht, sondern was schlecht endet. Selten sind die Nachrichten von großem Nutzen für das Publikum: all diese Kriege, Katastrophen und Unfälle dienen in der Regel dem niederen Trieb des Gefühlskitzels. Dafür werden die Journalisten bezahlt.

    Für die Abwicklung dieses zynischen Geschäfts gibt es professionelle Kriterien, nach denen die Tragweite eines Ereignisses für den eigenen Markt bemessen wird: So zählt ein Autobusunglück mit fünf Toten im Inland mehr als eines mit 50 Toten auf einem fernen Kontinent, außer es handelt sich im letzteren Fall um Deutsche. Solches Rechenwesen mit Opferzahlen mag zarten Seelen anstößig erscheinen, doch dahinter steckt nichts anderes als der Versuch, dem irrationalen Schicksal mit Rationalität zu begegnen.

    Betrachtet man hingegen die aktuelle Japan-Berichterstattung, so scheint es, dass dort kein Erdbeben stattgefunden hat, sondern ein Reaktorunfall. Es muss sich um einen Reaktorunfall mit vielen tausend Toten handeln, denn seit einer Woche kreisen die Schlagzeilen der deutschen Medien fast ausschließlich das Atomkraftwerk Fukushima und die von ihm ausgehende Strahlengefahr. Durch Verstrahlung ist jedoch bis jetzt, gottlob, kein einziger Mensch ums Leben gekommen. An der Küste landauf und landab liegen indes mehr als 16.000 Leichen, zum größten Teil ungeborgen im Meer oder unter Haustrümmern begraben.

    Diese völlige Verkehrung der Verhältnisse hat eine einzige, hässliche Ursache: beim Thema Atomkraft herrscht in Deutschland Rationalitätsverbot. Schon der Schadensvergleich mit anderen Arten der Energieerzeugung wird in der öffentlichen Diskussion konsequent ausgeblendet: In China sterben jedes Jahr mehrere Tausend Bergarbeiter beim Kohleabbau; um mit den Verheerungen, die immer wieder von brechenden Staudämmen angerichtet werden, Schritt zu halten, müssten sich noch etliche atomare Super-GAUs ereignen.

    Es ist bei uns üblich, diese Betrachtungsweise als zynisch zu denunzieren. Dabei ist sie genauso rational, wie jede wohlorganisierte Katastrophenhilfe: Beim Eintreffen am Unfallort kümmert sich der Notarzt zuerst um die, die nicht vor Schmerzen schreien und dadurch manifestieren, dass sie noch bei Bewusstsein sind. In einer strahlenverseuchten Umgebung wird für jedes Individuum errechnet, welche Dosis es gerade noch vertragen kann - nach Maßgabe des medizinischen Wissens. Radioaktivität ist eben auch nur eine Frage von Zahlen und Einheiten.

    Bloß für den deutschen Journalismus gilt das nicht. Seit einer Woche geht Möglichkeit vor Wirklichkeit. Statt Berichten gibt es Befürchtungen. Statt Kennzahlen Kann-Zahlen. Natürlich kann es in Daiichi morgen noch ganz schlimm werden. Natürlich kann eine Strahlenwolke bis nach Tokyo ziehen. Ein Taumel des Könnens hat Korrespondenten und Kommentatoren erfasst, die mit Konditionalsätzen um sich werfen. "Es ist nicht auszuschließen, dass ... " lautet eine der beliebtesten Formulierungen, in der freilich die Abdankung des Journalismus liegt. Zyniker der Old School würden sagen: Warten wir mal ab, was passiert. Heutige Journalisten sind aufs Ausschließen erpicht. Der zynische Journalismus war jedenfalls sachlicher.