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Zappelphilipp und Träumlinchen

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom - kurz ADHS - dieser komplizierte Begriff beschreibt ein Massenphänomen. Etwa sechs Prozent aller Schulkinder sind betroffen, zwei Drittel von ihnen sind männlichen Geschlechts. Sind diese schwierigen Kinder ein Produkt der modernen Leistungs- und Mediengesellschaft? Die Opfer von Reizüberflutung und kaputten Familienstrukturen? Sind sie tatsächlich krank oder einfach nur "schlecht erzogen"? - Gibt es die Krankheit ADHS überhaupt?

Von Kristin Raabe | 19.08.2007
    Die Eltern der betroffenen Kinder merken meistens schon früh: Mein Kind ist anders als die anderen. Was ADHS - oder in der englischen Abkürzung ADHD - aber wirklich bedeutet, wissen nur wenige Experten. Manfred Doepfner ist einer von ihnen. An der Kölner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie hat er schon bei etlichen Kindern die Diagnose ADHS nach den international anerkannten Kriterien gestellt:

    " Eine Diagnose ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, stellen wir dann, wenn eine ausgeprägte Störung der Aufmerksamkeit vorliegt, also die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit der Kinder beeinträchtigt ist, wenn die Impulsivität stark ausgeprägt ist und wenn Hyperaktivität vorliegt. Also wenn alle drei Merkmale in einer sehr stark ausgeprägten Weise vorliegen und das alles in einem Alter vor sechs, sieben Jahren, also vor der Einschulung im wesentlichen begonnen hat. Dann sind wesentliche Kriterien für die Diagnose Hyperkinetische Störung erfüllt. "

    Unkonzentriertheit, Impulsivität und extreme Unruhe - Kinder mit diesen Symptomen sind im Alltag meist nicht in der Lage, eine Sache zu Ende zu führen. Eine Bastelarbeit, ein Spiel, die Hausaufgaben - alles bleibt angefangen liegen. Sie reagieren gereizt, wenn ihre Umgebung sich nicht so verhält, wie sie es wollen. Für Eltern, Lehrer und Mitschüler sind sie unkontrollierbar. Nicht selten schlagen sie andere Kinder. Im Klassenraum springen sie über Tische und Bänke, beim gemeinsamen Abendessen mit der Familie bleiben sie nie länger als ein paar Minuten sitzen. Egal, wie oft Kinder mit ADHS mit ihrem Verhalten schon angeeckt sind, sie scheinen aus ihren Erfahrungen nichts zu lernen.

    Häufig zeigen sie zusätzliche Symptome, die von ihrem eigentlichen Problem ablenken. Bei manchen ist die Sprachentwicklung verzögert oder die Fein- und Grobmotorik unterentwickelt, viele weisen eine Störung des Sozialverhaltens auf. Das Klischee vom "Zappelphilipp" erfüllen dabei noch lange nicht alle Kinder.

    " Der war nur anders. Also seltsam kann man sagen. Der Ruben ist jemand der ganz oft nach oben guckt, so als würde er kommunizieren mit Außerirdischen, so. "

    Inzwischen unterscheiden Psychiater und Psychologen beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom zwischen dem hyperaktiven Zappelphilipp und dem unkonzentrierten Hans-Guck-in-die-Luft. Manfred Doepfner:

    " Es macht sehr viel Sinn auch klinisch, zumindest diese zwei Subtypen zu unterscheiden. Also die, die sehr stark unruhig sind, zappelig sind, impulsiv sind, in die Klasse hineinrufen, nicht abwarten können. Und die haben in der Regel immer auch Aufmerksamkeitsprobleme und die Kinder, die primär Aufmerksamkeitsprobleme haben, sogar manchmal eher ruhig sind, verträumt sind und eben nicht durch Unruhe und Impulsivität auffallen. "

    Dabei fallen die Träumer häufig erst viel später auf. Sie stören eben nicht so sehr wie ein impulsiver Zappelphilipp. Und nicht selten sind die ruhigen aufmerksamkeitsgestörten Kinder Mädchen, sagt Kerstin Konrad, Psychologin an der Universitätsklinik Aachen.
    " Wir müssen uns sicherlich der Tatsache bewusst sein, dass wir Mädchen eher unterdiagnostizieren und dass wir möglicherweise auch bestimmte Diagnosekriterien anders formulieren müssen, weil die Symptome bei Mädchen auch anders aussehen. Zum Beispiel, weil bei Mädchen Eltern doch eher diese starke verbale Überproduktion beschreiben, die bei Jungen gar nicht so häufig ausgeprägt ist. Und das ist nur ein Symptom in den Symptomlisten: "Redet übermäßig viel". Das könnte aber für Mädchen ein Symptom sein, das man stärker erfassen müsste, weil es Ausdruck ihrer ADHD-Symptomatik ist. Sodass wir da bei der Diagnostik noch mal stärker gucken müssen, ob wir diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Symptomatik stärker gerecht werden. "

    " Natürlich, da fragt man sich doch, warum hat mein Kind keine Freunde, warum kann mein Kind kein ausdifferenziertes Lego-Auto bauen? Natürlich, man ist ständig auf der Suche nach der Ursache. Warum ist das so? Warum ist mein Kind so? "

    " Ich habe immer gedacht, was mache ich falsch. Was läuft nicht richtig? Ich konnte es mir aber nie erklären, woran es gelegen hat. "

    " Ich habe gedacht, was mache ich falsch? Warum kriege ich das nicht in den Griff. Ich habe ja einen Großen. Das ist sehr schwierig, man wird auch aggressiv und man muss auch immer aufpassen und sich sagen, da stimmt doch irgendetwas nicht, wenn das nicht so funktioniert. "

    Manfred Doepfner: " Es ist nicht so, dass man ADHS bekommt in erster Linie, nur weil das Erziehungsverhalten ungünstig ist der Eltern, aber Kinder, die impulsiv sind, die unaufmerksam sind, die hyperkinetische Tendenzen haben, bei diesen Kindern macht man schneller bestimmte Erziehungsfehler, also es fällt einem schwerer, auf klare Regeln zu setzen, auf die Konsequenzen zu achten, darauf zu achten, dass man den Kindern eine positive Rückmeldung gibt, wenn es ihnen gelingt, einige Regeln einzuhalten. Die Hausaufgaben zu machen, am Tisch sitzen zu bleiben und so weiter und dass man auch eine wohlüberlegte negative Konsequenz erfolgen lässt, wenn das Kind sehr stark diese Regeln überschreitet. Was die Kinder in sehr hohem Maße brauchen, ist eine sehr klare, sehr konsequente aber auch liebevolle Erziehung. Und Eltern, die Kinder haben, die vielleicht aus biologischen Gründen zu einer ADHS-Symptomatik neigen, tappen dann in ganz besondere Fallen hinein, in die fast alle Eltern hineinfallen. Das ist also nicht so sehr eine Frage, ob die Eltern jetzt fähig oder unfähig sind, sondern sie machen schneller ganz bestimmte Fehler. "

    Manfred Doepfner hat an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Köln ein Verhaltenstraining entwickelt, bei dem Eltern lernen, mit ihren schwierigen Kindern umzugehen. Sind die Kinder noch nicht im Schulalter, kommen sie gemeinsam mit ihren Eltern für vier Wochen stationär in die Klinik. In dem kontrollierbaren Umfeld der Station erlernen sie dann einen extrem konsequenten Erziehungsstil - der sich allerdings bei Kindern mit ADHS nicht so einfach durchsetzen lässt.

    " Es gab so 7 Regeln, die befolgt werden mussten, unter anderem, dass Katharina nicht mehr aus der Wohnung rausgeht. Es musste natürlich auch Konsequenzen geben. Früher nannte man das Bestrafung, aber dafür gibt es einen "Auszeitstuhl". Und das ist für das Kind aber auch für die Mutter ganz schrecklich. Weil das erste mal, wenn der Auszeitstuhl ins Spiel kommt, ist es so gewesen, dass Katharina eine Halbe Stunde darauf saß und nur geschrieen hat, also es war ganz schlimm, das auszuhalten. Es ist für Kinder, die sowieso nicht gut ruhig sitzen können, sehr schwierig auf diesem Auszeitstuhl zu sitzen. "


    " Das heißt nicht, dass diese vier Wochen alle unsere Probleme behoben haben, das sicherlich nicht. Aber das hat das alltägliche Leben sehr viel leichter gemacht. Also es gibt viele Sachen. Katharina kann sich nach wie vor nicht konzentrieren. Katharina kann sich nicht hinsetzen und zwanzig Minuten ein Bild malen. Diese Sachen werden auch dadurch nicht behoben. Aber die alltäglichen Sachen, mal mit Katharina in einen Supermarkt zu gehen, das ist jetzt möglich, weil man vorher Regeln bespricht, weil man sagt, wir gehen da rein, es wird nichts gekauft, du fasst nichts an, aber du darfst den Wagen schieben. Also man muss es sagen sehr genau festgrenzen und sobald man die Zügel locker lässt, dann werden die Grenzen nicht mehr akzeptiert. "

    Natürlich reicht es nicht, lediglich zuhause ein strukturiertes Umfeld zu schaffen. Auch Lehrer und Erzieher werden durch die Mitarbeiter der Kölner Universitätsklinik im Umgang mit den ADHS-Kindern geschult. Wenn ein solches Programm frühzeitig einsetzt, kann manchmal sogar das Schlimmste verhindert werden. Das konnte Manfred Doepfner jetzt mit einer Präventionsstudie beweisen. Für diese Studie suchte er in Kindergärten gezielt Kinder, die durch aggressives und hyperaktives Verhalten auffielen, aber noch nicht alle Kriterien für ADHS erfüllten. 91 dieser Familien erhielten ein spezielles Elterntraining. Manfred Doepfner:

    " Wir konnten in diesen Studien zeigen, dass wir damit tatsächlich ADHS-Symptome und auch aggressive Verhaltensweisen, bei den Kindern sowohl im Kindergarten als auch in der Familie deutlich reduzieren konnten. So dass man die Entwicklung von ADHS durch frühe Intervention tatsächlich auch vermindern, also die Entwicklung auch verhindern kann. "

    Die Häufigkeit von ADHS liegt in der Normalbevölkerung bei 6 Prozent. Auch wenn das Elterntraining nicht restlos sämtliche Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern beseitigen konnte, so erfüllte doch keines der 91 Kinder in der Studie noch die Kriterien zur Diagnose einer Aufmerksamkeitsstörung.

    " Es ist schon so, dass sie merkt, bei ihr ist etwas anders als bei den anderen Kindern. Ob sie das genau begreifen kann, das kann ich nicht so genau sagen. Also sie sagt sehr oft, "Ich kann nicht so gut malen", also in Sachen, die man sehen kann, die man erkennen kann. Ich sag dann immer, dafür kannst du andere Sachen gut. Die kann sich sehr gut bewegen, die ist super stark, ein kräftiges Kind, kann dann auch viele Sachen hochheben, die die anderen noch nicht heben können. "



    " Es ist so, sie kann Kontakte nicht gut halten. Wenn jemand weg ist, der ist weg. Dann ist sie nicht in der Lage so einen Kontakt aufrecht zu halten. "



    " Es ist auch schwierig für die anderen Kinder mit seinem Verhalten umzugehen. Plötzlich lässt er dann jemanden fallen wie eine heiße Kartoffel und konzentriert sich auf ein anderes Kind und ist eben noch nicht, ich denke das wird irgendwann kommen, aber er ist mit neun noch nicht in der Lage eine Freundschaft zu pflegen. Und neunjährige haben ja schon richtige Freundschaften, die man durch Kontakte, Austauschen von Sammelbildern pflegen muss und da fängt der gerade erst an mit neun. Mein sechsjähriger: hier eine Übernachtung, da der Fußballverein, da können wir für den Ruben vielleicht mal in eine paar Jahren dran denken. Aber das läuft alles noch über die Erwachsenen. "


    Eltern können für ihre aufmerksamkeitsgestörten Kinder viel erreichen. Aber die Umwelt ist eben nur ein Faktor. Denn zuerst muss eine genetische Anlage für ADHS vorhanden sein. Wenn eineiige Zwillinge nach der Geburt getrennt werden und ein Zwilling an ADHS erkrankt, dann liegt die Wahrscheinlichkeit bei 70 bis 80 Prozent, dass auch der andere ADHS-Symptome zeigt. Inzwischen sind auch Gene identifiziert, die das Risiko, an ADHS zu erkranken, verdoppeln oder gar vervierfachen. Außerdem können Faktoren, die die Gehirnentwicklung beeinflussen, ADHS auslösen - Rauchen während der Schwangerschaft ist ein Beispiel, und Kerstin Konrad kennt noch weitere:

    " Wir wissen mittlerweile ja, wie komplex diese Anlage-Umwelt-Interaktionen sein können. Beispielsweise wurde kürzlich gezeigt, dass frühgeborene Kinder mit einem niedrigeren Geburtsgewicht, die ja ein höheres Risiko für ADHS haben, dass so etwas aber wieder kompensiert werden kann durch ein hohes Ausmaß an mütterlicher Wärme, das heißt, es ist ein ganz komplexes Geschehen, was letztendlich dann die Entwicklung des Gehirns beeinflusst, und damit auch die Entstehung von ADHD-Symptomen. "

    Die Arbeitsgruppe um Kerstin Konrad hat in einigen Studien das Gehirn von Kindern mit ADHS mit Hilfe eines Kernspintomographen untersucht. Bei solchen Studien zeigte sich, dass bei diesen Kindern vor allem ein Hirnteil kleiner und weniger aktiv war als bei gesunden Kindern: Das Stirnhirn. Das Stirnhirn übernimmt bei vielen Denkprozessen eine Art Führungsrolle: Hier planen wir Handlungen, etwa den nächsten Einkauf im Supermarkt. Auch das Arbeitsgedächtnis liegt dort, mit dessen Hilfe wir die Preise von Butter und Zucker addieren. Und auch der Impuls, den Einkaufswagen mit ungesundem Junk-Food vollzuladen, unterdrücken wir mit Hilfe des Stirnhirns.

    Bei Kindern mit ADHS scheint diese Kontrollinstanz Stirnhirn schwächer ausgeprägt zu sein. Aber erklärt dieses Defizit tatsächlich, warum Kinder mit ADHS ständig unkonzentriert sind, ein Ziel nur schwer bis zum Ende verfolgen können und nur langsam aus Erfahrungen lernen? Und was ist mit den Veränderungen in anderen Hirnteilen? Im sogenannten Striatum beispielsweise oder im Kleinhirn? In den letzten Jahren haben die modernen bildgebenden Verfahren immer neue Auffälligkeiten im Gehirn von Kindern mit ADHS ans Licht gebracht.

    " Wir müssen aber ehrlicherweise auch sagen, dass wir eine Reihe von Kindern, sowohl von gesunden Kindern, als auch von ADHD-Kindern nicht gut im Kernspintomographen untersuchen können, und hier muss man auch kritisch die Studien betrachten, ob das wirklich repräsentativ ist für die Gesamtheit der ADHD-Kinder oder ob das doch eher zutrifft auf die Kinder mit einer milderen Symptomatik, weil die Kinder, die besonders impulsiv und motorisch unruhig sind dann doch eher rausfallen bei diesen Untersuchungen. "

    Nicht alle hyperaktiven Kinder lassen sich für 15 Minuten in die enge Röhre eines Kernspintomographen schieben. Aber selbst, wenn die Hirnforscher jedes Kind untersuchen könnten, würden die Ergebnisse solcher Studien nur begrenzte Informationen über die tatsächlichen Ursachen von ADHS liefern. Das wissen auch die Ärzte, die solche Studien selbst durchführen. Timo Vloeth von der Universitätsklinik Aachen

    " Man kann nicht sagen, dass die Veränderungen, die wir finden, grundsätzlich bei den Kindern schon vorliegen. Zum Beispiel also genetisch bedingt werden. Es kann gut sein, dass das auch Umwelteinflusse sind, die solche Veränderungen hervorrufen. Man muss sicherlich auch davon ausgehen, dass solche Veränderungen nicht statisch sind, sondern sich über die Zeit auch entwickeln und verändern können, gerade das kindliche Gehirn zeigt ja auch einen großen Entwicklungsaspekt. Das sind nur Momentaufnahmen, die wir innerhalb einer Gruppe von Kindern gemacht haben. "

    Letztlich müssen die Forscher zugeben, dass ihr Bild von der Krankheit ADHS im Moment noch alles andere als vollständig ist.

    Irgendetwas muss bei Kindern mit ADHS während der Entwicklung schief gelaufen sein. Vielleicht hat die Mutter geraucht oder Alkohol konsumiert oder das Kind war ein Frühchen. Vielleicht hat es aber auch als Säugling oder Kleinkind Erfahrungen gemacht, sogar Traumata erlitten. Es gibt viele Umweltfaktoren, die ein junges Gehirn formen oder verformen können und nicht alle diese Faktoren sind bekannt. Etwas aber wissen die Mediziner inzwischen ganz sicher: Die Hirnentwicklung ist eigentlich nie so richtig abgeschlossen - und lässt sich oft noch in andere Bahnen lenken. Das hat auch der schwedische Hirnforscher Hans Forssberg versucht. Er benutzte dabei ein Computerprogramm, bei dem ein Roboter die Hauptperson war:

    " Dieser Roboter trainiert das Arbeitsgedächtnis. Und bei vielen Kindern mit ADHS ist das Arbeitsgedächtnis stark herabgesetzt. Mit Hilfe unseres Computerprogramms trainieren die Kinder aber diese Gedächtnisfunktion. Möglicherweise lassen sich durch ein verbessertes Arbeitsgedächtnis auch andere Symptome der ADHS bekämpfen. "

    Hans Forssberg hat das Computerprogramm mit dem Roboter am Karolinska Institut in Stockholm entwickelt: Dabei müssen die Kinder rund um den freundlichen Roboter Robo Aufgaben lösen, beispielsweise sich merken, in welcher Reihenfolge die Lämpchen auf Robos Brust aufleuchten. Das Programm spricht alle Sinne an. Und wenn die Kinder acht Aufgaben erfolgreich gelöst haben, dürfen sie zur Belohnung ein reines Spaßspiel spielen: Das Roborace.

    Inzwischen haben die schwedischen Wissenschaftler schon einige Jahre Erfahrung mit ihrem Programm und mehr als 50 Kinder trainiert. Und es zeichnet sich ab: Die meisten Kinder verbessern nicht nur ihr Arbeitsgedächtnis, auch die anderen Symptome der ADHS gehen zurück. Viele der so geförderten Kinder erfüllen heute noch nicht einmal mehr die Kriterien für ADHS.

    Hans Forssberg: " Es ist wirklich sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass das keine Therapie für jedes Kind mit ADHS ist. Unser Computerprogramm hilft nur den Kindern, bei denen das Aufmerksamkeitsdefizit im Vordergrund steht. Bei diesen Kindern können wir allerdings nicht nur das Arbeitsgedächtnis stark verbessern, sondern auch andere kognitive Symptome der ADHS. Bei den primär hyperaktiven Kindern konnten wir mit unserem Trainingsprogramm für das Arbeitsgedächtnis allerdings nichts erreichen. "


    Zur Zeit arbeiten andere Arbeitsgruppen daran, die Ergebnisse von Hans Forssberg zu bestätigen. Immerhin waren bislang alle Versuche gescheitert, durch das Training des Arbeitsgedächtnisses die ADHS-Symptome zu lindern. Die Kinder verbesserten sich zwar in den Testsituationen, im Alltag veränderte sich das Verhalten dagegen kaum. Das scheint bei der schwedischen Studie jetzt erstmals anders zu sein.

    Mindestens genauso Erfolg versprechend wie das Computertraining aus Stockholm ist die Arbeit der deutschen Psychologin Ute Strehl. An der Universität Tübingen bringt sie kranken Kindern bei, ihre Hirnströme zu kontrollieren. Denn die zeigen bei ADHS normalerweise auffällige Frequenzmuster.

    " Das ist einmal in den normalen Frequenzen oder in der spontanen Hirntätigkeit, da gibt es einige Studien, die zeigen, dass sehr viele Kinder mit ADHS zu viele langsame Anteile haben und zuwenig schnelle Frequenzen und dann kann man das Programm eben so machen, dass die Kinder lernen, das zu verändern. Also weniger langsame Anteile haben oder mehr schnelle und diese schnellen Anteile sind eben notwendig, damit ich wach sein kann, damit ich aufmerksam sein kann und damit ich Aufgaben zu Ende bringen kann und dergleichen mehr. "

    Beim sogenannten Neurofeedback-Training von Ute Strehl sitzen die Kinder vor einem Computermonitor. An ihrem Kopf kleben drei EEG-Elektroden, die mit dem Computer verbunden sind. Immer wenn die Hirnströme der Kinder ein "gesundes" Muster aufweisen, also mehr schnelle Frequenzen, geht auf dem Bildschirm ein Ball ins Tor und ein Smiley erscheint. Durch dieses positive Feedback lernen die Kinder tatsächlich ihre unbewussten Hirnströme zu verändern - auch wenn sie selbst nicht sagen können, wie das geht. Das Ergebnis jedenfalls stimmt.

    " Sie zeigen eine deutliche Verbesserung bei kognitiven Aufgaben, schneiden im Intelligenztest besser ab, schneiden im Aufmerksamkeitstest besser ab und wenn man das über einen längeren Zeitraum verfolgt, haben wir zu unserer eigenen Überraschung festgestellt, dass nicht nur ein halbes Jahr nach Ende des Training diese guten Resultate erhalten bleiben, sondern dass zwei Jahre danach man immer noch sehen kann, dass diese Kinder genauso gut sind wie zu Ende des Trainings und teilweise sich immer noch verbessert haben. Wir haben jetzt in unserer letzten Nachfolgestudie gesehen, dass keines der Kinder mehr überhaupt noch das Kriterium für ADHS erfüllt. Das ist eigentlich das, was man erreichen möchte. "

    Ute Strehl konnte Kinder untersuchen, die auch drei Jahre nach Ende des Trainings immer noch in der Lage waren, durch die Kontrolle ihrer Hirnströme den Ball ins Ziel zu manövrieren und die auch im Alltag kaum noch ADHS-Symptome aufwiesen.

    " Das führt dann zu der Schlussfolgerung, das ist eben was Automatisiertes. Wir haben das Gehirn verändert und diese Veränderung bleibt erhalten. "

    Das Neurofeedbacktraining ist allerdings ziemlich zeitaufwendig und kann nur von speziell ausgebildeten Therapeuten durchgeführt werden. Damit Krankenkassen die hohen Therapiekosten übernehmen, müssen noch weitere Studien mit mehr Kindern durchgeführt werden.

    " Sie ist sieben und kommt jetzt in die Schule demnächst. Sie ist nicht auf dem Level von anderen Siebenjährigen. Aber sie ist auf einem guten Weg, sie geht auf eine integrative Schule, ich kann noch nicht sagen, ob mit oder ohne Medikamente, wir werden es erst mal ohne probieren. Aufgrund dieser schwierigen Sache mit der Konzentration, würde ich mir auch vorstellen können, zu Ritalin oder was auch immer dann für sie gut ist, zu greifen. "


    " Bei uns war es so, dass wir immer gesagt haben, wir wollen keine Medikamente geben, aber dann ist nach zwei Jahren haben wir gesagt, es fängt an in der Schule daneben zu laufen. Dann haben wir uns noch mal zwei verschiedene Meinungen geholt und haben dann entschieden. Ruben bekommt, nur für die Schule, für diese vier Stunden, die er in der Schule ist, bekommt er Methylphenidat, damit er überhaupt in der Lage ist, seine Begabungen, sein Potential auszuschöpfen und damit ihm die Schule Spaß macht. Wieso soll man schon im zweiten Schuljahr eine Schulversagerkarriere anlegen? Und wir haben gesagt, wir versuchen es. Und wir haben durchweg positive Erfahrungen gemacht. Es ist jetzt nicht das Wundermittel. Also er hat jetzt nicht plötzlich Einsteins Theorie neu entdeckt. Das wird ja oft so dargestellt, als wären damit alle Probleme weggewischt. Das stimmt nicht, das Kind ist weiterhin ab 12 Uhr völlig unkonzentriert und braucht ein ganz strukturiertes Leben, damit er A: glücklich ist und B: durch seinen Tag kommt. So ist es einfach. Da ändert auch das Medikament nichts dran und wir wollen es eben noch nicht den ganzen Tag über geben. Aber Ruben braucht es, damit er überhaupt auf seinem Stuhl sitzen bleiben kann. Punkt. "


    Methylphenidat ist ein Wirkstoff, der bei etwa 80 Prozent der ADHS-Patienten anschlägt. Bekannter ist es als Medikament unter dem Namen Ritalin.

    Ritalin setzt beim wichtigsten Botenstoff im Stirnhirn an, dem Dopamin. Weil das Stirnhirn bei ADHS Kindern schwächer ausgeprägt ist, kurbelt man die Aktivität des Dopamins an und sorgt so dafür, dass die vorhandenen Nervenverknüpfungen besser und schneller arbeiten. Die Folge: die Kinder können sich besser konzentrieren und sind lernfähiger. Für viele schwer betroffene Kinder ist das eine Chance. Und die einzige Möglichkeit am normalen Schulunterricht teilzunehmen. Allerdings hält die Wirkung nur so lange an, wie das Medikament im Körper bleibt.

    In den USA haben Ärzte fast 600 Kinder mit ADHS über Jahre hinweg beobachtet und die verschiedenen Behandlungsformen miteinander verglichen. Manfred Doepfner kennt das Ergebnis:

    " Diese Studie hat wirklich Verhaltenstherapie mit Pharmakotherapie mit der kombinierten Behandlung verglichen. Und hatte von den Kurzzeiteffekten, also nach 14 Monaten, sehr starke Effekte bei der Pharmakotherapie und bei der kombinierten Behandlung, auch noch deutliche Effekte bei der Verhaltenstherapie, aber nicht so stark wie die bei der Pharmakotheraphie waren. Und jetzt nach 36 Monaten und es gibt ja auch einen 72-Monats-Follow-up, die lassen keine so klaren starken Effekte bei den einzelnen Therapieformen nicht mehr erkennen, da kann man die deutliche Überlegenheit der pharmakologisch behandelten Kinder nicht mehr erkennen. "

    Langfristig gesehen ist die Verhaltenstherapie also mindestens genauso effizient wie die Einnahme von Ritalin und umgekehrt. Immerhin: die große amerikanische Studie hat auch gezeigt, dass kaum ernste Nebenwirkungen unter der Gabe von Methylphenidat auftreten. Trotzdem sind einige Experten wegen der hohen Verschreibungszahlen von Ritalin besorgt. Sie fürchten, dass viele Kinder das Medikament bekommen, die es eigentlich gar nicht bräuchten. Denn im letzten Jahr haben deutsche Ärzte zwanzig mal mehr Ritalin verschrieben als noch vor zehn Jahren. Noch liegen die hohen Verschreibungszahlen allerdings unterhalb der Häufigkeit von ADHS.

    " Aber jetzt ist die Häufigkeit der Verschreibungen so, dass wir sagen würden, es sollte keine deutliche Steigerung mehr kommen, weil wir ja auch nicht davon ausgehen, dass alle Kinder mit ADHS medikamentös behandelt werden müssen, sondern vielleicht nur eine bestimmte Gruppe. Und die absoluten Verschreibungszahlen sagen uns ja auch noch immer nicht, ob die richtigen Kinder das bekommen. "

    Eins haben verschiedene deutsche Studien bereits belegt: Manche Kinder, die schwer unter ADHS leiden, haben nie das für sie so hilfreiche Ritalin bekommen. Andere Kinder wiederum nahmen das Medikament seit Jahren, obwohl sie gar kein ADHS hatten.

    " Sie hat sehr viele positive Entwicklungen gemacht, jetzt kann man nur hoffen dass es weiter geht. Und es wird auf jeden Fall so sein, dass noch einiges auf uns zukommen wird, eher im Negativen denn im Positiven. Ja dann müssen wir uns Zeit nehmen und daran arbeiten, wie wir das bis jetzt auch gemacht haben. "



    " Ich habe vor allem Angst, dass der Ruben, sich nicht so entwickeln kann, dass er glücklich wird. Es ist nun mal leider oft so, dass diese Kinder intelligent sind, dass sie vielleicht auch an sich Erwartungen haben. Wünsche haben und Träume, die sich aber nicht mit dem decken, was sie erreichen können in dieser Gesellschaft und davor habe ich Angst vor dieser Schere. "


    " Ich glaube die Carolin ist auf einem guten Weg. Und ich habe für mich jetzt nachdem ich viele Ängste hatte, auch die Sicherheit gewonnen, dass sie ihr Leben schon irgendwie meistern wird. "


    Die ADHS verschwindet nicht mit dem Älterwerden. Bei mindestens der Hälfte der Betroffenen bleibt sie bestehen. Von Kriminalität und Drogensucht sind Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS deutlich häufiger betroffen als ihre Altersgenossen. Es gibt Studien, die bei knapp der Hälfte der Insassen von Jugendstrafanstalten ein ADHS nachweisen konnten. Aber intensive therapeutische Begleitung kann auch da das Schlimmste verhindern. Manfred Doepfner hat an der Universität Köln eine der wenigen Langzeitstudien mit ADHS-Kindern durchgeführt.

    " Wir haben in der Studie, das war jetzt eine behandelte Gruppe von 85 Kindern, wir konnten zeigen, dass erhöhte Delinquenzraten vorhanden waren im Jugendalter, aber dass sich insgesamt die Symptomatik doch deutlich verbessert hat. Dass das Gros der Kinder und Jugendlichen doch eine relativ gute Entwicklung genommen hat, aber es gibt so 15 bis 20 Prozent der Kinder, die dann zwischen 16 und 22 Jahren waren, die dann doch schon einmal vor dem Richter standen. "

    Alle Kinder in der Kölner Studie hatten zumindest eine intensive verhaltenstherapeutische Behandlung erfahren, einige auch Medikamente bekommen - wer weiß, wie sie sich ohne Betreuung entwickelt hätten. Dass immer wieder Stimmen laut werden, die behaupten, ADHS sei gar keine Krankheit, sondern die Gesellschaft sei das Problem, hilft den Betroffenen wenig. Manfred Doepfner:

    " Was ganz wichtig ist in der ganzen Diskussion, dass es bei diesen Störungen, wie bei allen psychischen Störungen vermutlich, es nicht um klar abgrenzbar definierte Kategorien geht. Ich nehme immer als Beispiel, es ist eben nicht wie Mumps oder Masern, also etwas, was man hat oder nicht hat, sondern wenn man einen organischen Vergleich ziehen will, das ist eher wie Bluthochdruck oder Übergewicht. Das kann man mehr oder weniger haben. Also Bluthochdruck ist nicht deswegen schwammig, weil es dimensional ist. Wir wissen, Leute, die sehr starken Bluthochdruck haben, haben eine richtige Erkrankung, aber es gibt fließende Übergänge hin zur Normalität. Und die Grenzen, die da gesetzt werden, wo wir dann sagen, ab da nennen wir das Problem ein Problem oder eine Störung, haben dann eine relative Beliebigkeit. Das ist genauso wie bei Übergewicht, je mehr man davon hat, desto mehr steigt das Risiko. Und ADHS oder die ADHS-Symptome kann man mehr oder weniger stark ausgeprägt haben. Und dann gibt es den Streit darüber, wann ist das noch Normvariation, Normalität und wann ist es so stark, das man sagen muss, es ist eine Störung. "

    Immerhin haben Ärzte ADHS schon vor über Hundert Jahren gekannt. So beschrieb der Berliner Psychiater Wilhelm Griesinger Mitte des 19. Jahrhunderts Kinder, "die keinen Augenblick Ruhe halten können ... und gar keine Aufmerksamkeit zeigen". Seinen Angaben zufolge litten diese Kinder unter einer "nervösen Konstitution", was er als eine gestörte Reaktion des Gehirns auf eingehende Reize deutete. ADHS ist also nicht etwa eine Störung, die erst durch die Reizüberflutung in der modernen Mediengesellschaft entstanden ist. Vielmehr kommt sie zu allen Zeiten in allen Kulturen vor. Kerstin Konrad:

    " Ich glaube, dass insgesamt die Anforderungen an Kinder und die Anforderungen der Gesellschaft insgesamt so gestiegen sind, dass wir diese Symptomatik eher als Beeinträchtigung für die Entwicklung definieren und dass sich das vielleicht verändert hat in den letzten Jahren. Dass so etwas vielleicht besser kompensiert wurde vor hundert Jahren, wo Leistungsanforderungen noch nicht so hoch waren. Wo man vielleicht auch mehr Nischen hatte, beruflicher Art. Aber insgesamt, wenn wir das Kriterium der Beeinträchtigung in der Entwicklung mit berücksichtigen - und das ist wichtig, dass wir nicht jedes Kind, das sich ein bisschen schlechter konzentrieren kann und das motorisch etwas lebhafter ist, diagnostizieren, sondern nur dann die Diagnose vergeben, wenn es aufgrund der Symptomatik zu einer Beeinträchtigung in der Entwicklung des Kindes kommt - dann ist es ganz klar eine Krankheit, die es schon immer gegeben hat und die sicherlich nicht durchs Fernsehen primär entstanden ist. "



    " Wenn man ADHS als Metapher für die sozialen Zustände sieht - Es ist keine schlechte Metapher. Wir leben in einer medialen Welt, die von Reizüberflutung geprägt ist. Das wird aber leider der Krankheit nicht gerecht. Diese Kinder haben eine Behinderung und den Kindern ist nicht damit geholfen, dass die Medikamente verteufelt werden, dass die Krankheit vielleicht sogar negiert wird, dass es gar keine Krankheit ist, das ist ja sogar das allerschlimmste, dass es Meinungen gibt, die behaupten, das ist einfach eine Diagnose, die es gar nicht gibt. Also da fühlt man sich wirklich als Mutter, die tagtäglich mit der Symptomatik ihres Kindes kämpft, auf gut deutsch auf den Arm genommen. "