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Zartbittere Poesie

Karin Reschke wurde als Verfasserin von Romanen und Erzählungen bekannt, in deren Mittelpunkt die Schicksale und die Entwicklung von - teils historischen - Frauengestalten stehen. Im Mittelpunkt ihres neuen Roman steht ein Mädchen, das - wie die Autorin selbst - in den 50er-Jahren in Berlin aufwächst. Zum Titel "Kalter Hund" schreibt sie in einem vorangestellten Satz: "Man nehme Vater, Mutter, Kind, drehe sie durch den Wolf und heraus kommt ein Kalter Hund".

Von Michaela Schmitz | 18.05.2009
    Über das Wichtigste redet man nicht. Das ist unausgesprochenes Gesetz der Familie. Auch von Roses Vater ist nicht mehr die Rede, seit er fort ist, bald nach dem Krieg. Sein Zimmer gilt als unbetretbare Zone. Das Fenster zum Balkon ist von Efeu überwuchert. Für Lissy ist Rapmund ein Schuft. Mehr erfährt ihre Tochter nicht. Außerhalb der Familie findet Rose Antwort auf ihre Fragen. Lissys mondäne Freundin Felicitas verrät ihr: Die Mutter hat sich wegen Rapmunds Affären von ihm scheiden lassen. Jetzt ist ihr Vater bei einem Sender im Westen der Stadt als Kulturredakteur tätig. Was auch keiner wissen darf: Roses Mutter geht gar nicht täglich ins Büro, wie sie ihrer Familie vormacht. Sie arbeitet als Rundfunksprecherin im Osten Berlins für die verhassten Russen. Die Dreizehnjährige will die Trennung vom Vater nicht akzeptieren. Rose schreibt ihm; sie möchte Rapmund sehen.

    Rapmund stand immer am Rande. Sein Zimmer war seit Jahren verschlossen. Rapmund hatte es leer zurückgelassen. Von dem Tag an geriet der Vater der Wohnung und der Vater seiner Tocher ins Abseits. Alle zu Hause wussten, ich treffe ihn, doch es wurde mir nicht mehr verboten, aber auch nicht gestattet. In diesen Momenten geriet ich, wie er, ins Abseits.
    Mit ihrem Vater findet Rose die Stimme ihrer Kindheit wieder. Über ihn selbst und die Beziehung zur Mutter aber erfährt sie wenig. Schnell begreift sie: Rapmund ist ein Fluchttier wie das Eichhörnchen, wie die Pferde. Ihr Vater ist ein "geborener Wegläufer". Und ihre Mutter hatte schon immer zu viel mit sich selbst zu tun. Deine Mutter hat ein Schlingpflanzenherz; es umgarnt sich selbst und zieht sie hinab, verrät ihr Felicitas. Lissy und die Großeltern leben in ihrer eigenen Welt. Für Rose ist da kein Platz. Sie flüchtet in ihre Kammer und schiebt krachend den Riegel vor. Tagelang fährt sie S-Bahn, sitzt in der Bank, lässt sich durchschütteln und liest dicke russische Romane. Ein verlassener Kellerraum in der Nachbarschaft wird zu ihrem Versteck. Sie teilt es mit dem zwei Jahre älteren Mister Feuervogel. Für den Schwarzhandel hat er hier sein Warenlager angelegt. Ihre heimatlosen Seelen suchen gegenseitig Halt. In dem nach Maschinenöl und Benzin riechenden Raum umschlingen sich ihre Körper wie einsame Pflanzen. Plötzlich verschwindet der Freund ohne Abschied, lässt nur sein Kofferradio zurück. Rose versteckt es im Bett und hört die Sendungen ihres Vaters, auch über die Literatur der Kriegsjahre. Die Familie will davon nichts wissen. Genauso wenig wie von dem verschollen geglaubten Kriegsheimkehrer. Lissys Bruder taucht unerwartet wieder auf. Der Flüchtling hielt sich jahrelang in Frankreich versteckt. Die Familie setzt ihn vor die Tür. Für sie ist der Deserteur jetzt endgültig gestorben.

    Er schwieg, alle verlegten sich aufs Schweigen, die einzige Möglichkeit, Gefühle unter Kontrolle zu halten. Die Welt hatte damals einen hohen Rand von strengen Regeln. Lissys Familie [war] im Begriff, ihren eigenen Sohn, Bruder zu verstoßen, weil er ein Feigling gewesen war, im Krieg die Seiten gewechselt hatte. Das beste an diesem hohen Rand war seine Unsichtbarkeit und das Unausgesprochene, die vielen Siegel der Verschwiegenheit.
    Auch Rapmund hatten sie verstoßen, weil er ihre Regeln außer Kraft gesetzt hatte. Erst von Rapmunds Schwester Betty erfährt Rose von seinen Frauen und Kindern vor seiner Ehe mit Lissy. Rose ist paralysiert. Gleichzeitig stürzt sie sich in Liebesabenteuer. Mit Coco Müller trifft sie sich draußen beim Wasserwerk. Aber Coco verschwindet von einem Tag auf den anderen wortlos nach Amerika. Rose verliebt sich bald neu. Doch ihre Liebe zu Toni Siebert ist kurz und verzweifelt. Seine Lungenkrankheit lässt ihm nicht mehr viel Zeit. Zum Abschied schreibt er ihr einen einzigen Satz: "Bei den Sternen am großen Wagen wirst Du mich nicht finden." Sie bringt ihm Maiglöckchen auf sein Grab. Kurz darauf stirbt auch die Großmutter. Rose kennt sich aus im Schweigen und Abschied nehmen und lässt bei ihrer Beerdigung den Rauch ihrer Zigarette stumm zu den Sternen aufsteigen. Als ihr Vater schließlich seine Stimme verliert, will er sie nicht mehr zu sich lassen. Stumm zieht er sich in sein Zimmer im Haus der neunzig Jahre alten blinden Belinda zurück und verweigert das Essen. Doch Rapmund schreibt seiner Tochter lange Briefe. Endlich erzählt er ihr seine Geschichte, redet über sich und Lissy. Warum, fragt Rose sich, packt er jetzt aus?

    Dann teilte mir Rapmund in einem Dreizeiler mit, Großbuchstaben, unverwechselbar, er reise nach Turkmenistan, es sei an der Zeit. Sein Brief kam zu spät, ich konnte ihn nicht aufhalten. Vom Doktor hörte ich es auf der Straße.
    Karin Reschkes "Kalter Hund" ist - mehr als ein Spiegelbild der kollektiven Vergangenheits-Verdrängung der 50er-Jahre - eine persönliche Chronik des Verschweigens, des Verlierens und der Leere. Die Autorin entwirft das beklemmende Psychogramm einer Ich-Erzählerin, ohne dass diese viel von sich preisgibt. Aber gerade durch das Aussparen starker Gefühle wird ein um so eindringlicheres Bild von Roses wie mit Efeu umwuchertem Seelenbiotop vermittelt. "Kalter Hund" ist das eigenwillige Porträt eines ungewöhnlichen Mädchens. Ein stilles Buch voll spröder Traurigkeit, kantiger Einsamkeit und zartbitterer Poesie.

    Karin Reschke: Kalter Hund
    Weissbooks 2009, 196 Seiten, 18,80 EUR.