Freitag, 19. April 2024

Archiv


Zauberei und Phantastik während der "orangenen Revolution"

Der Roman "Zwölf Ringe" des Ukrainers Juri Andruchowytsch beschreibt virtuos die unwägbare Übergangsperiode, in der sich sein Land befindet. Noch weiß niemand, in welche Richtung die Entwicklung letztlich geht. Verdrängtes, Verschwiegenes, Unverarbeitetes tritt plötzlich zutage. Es geht drunter und drüber und selbst Gespenstergeschichten á la Dracula dürfen nicht fehlen.

Ein Beitrag von Helmut Böttiger | 12.04.2005
    Lange konnte man sich hierzulande unter der Ukraine kaum etwas vorstellen. Das war eine Art Anhängsel im Bereich der früheren Sowjetunion, mit alten Netzwerken, mafiösen Strukturen und der Herrschaftsform der Oligarchie: ein paar reiche Familienclans bestimmten die Politik. Da war es ziemlich überraschend, als im Jahre 2003 ein kleines edition suhrkamp-Bändchen mit Aufsätzen des bis dahin völlig unbekannten ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch erschien: es hieß "Das letzte Territorium" und gab einen verblüffenden Einblick in die wilden und anarchischen Unterströme der ukrainischen Seele. Plötzlich merkte man: Zwischen den Karpaten, dem alten Galizien und den Industriezonen um das Donezk-Becken spielt sich ein abenteuerliches Geschehen ab, da braut sich etwas Neues zusammen. Andruchowytsch hatte im Lauf der neunziger Jahre drei Romane geschrieben, von denen man in Deutschland überhaupt nichts wusste. Er wurde mit ihnen berühmt und berüchtigt. Das, was er machte, nannte man "ukrainische Postmoderne" – und das war ziemlich umstritten.

    "Das war für mich irgendwie verdammt. Ukrainische Postmoderne: Diesen Begriff hasse ich. Nicht so sehr im Teil "Ukraine" als im Teil "postmodern". Niemand weiß, was das bedeutet. Deswegen kann man den Begriff auf alles, was heutzutage geschrieben wird, anwenden. Die Diskussion darüber ist irgendwie traditionell, das geht bei uns schon seit 150 Jahren so. Es gibt einen ewigen Streit zwischen zwei Richtungen: die prowestliche Richtung und das Gegenteil dazu, den Nativismus, also die Ideologie von Blut und Boden. Diese Strömung ist ewig. Anfang der neunziger Jahre bedeutete die Etikette "postmodern", dass der Autor nicht sonderlich ukrainisch ist, sondern prowestlich. Er übernimmt diese schrecklichen Kulturmoden. "

    Jetzt ist endlich ein Roman auf deutsch erschienen, er heißt "Zwölf Ringe". Es ist das neueste Buch von Andruchowytsch, in Kiew kam es im November 2003 heraus. Die Hauptfigur hat einen Namen, der genausogut auch von Joseph Roth stammen könnte: sie heißt Karl-Joseph Zumbrunnen. Es handelt sich um einen Fotografen aus Wien, der galizische Wurzeln hat und in den neunziger Jahren ständig in die Ukraine fährt, um diesem Galizien nahe zu sein. Dabei kommt es zu bizarren Verwicklungen, zu grotesken Szenen, die zum Teil an den großen Tschechen Bohumil Hrabal, zum Teil auch an den braven Soldaten Schwejk erinnern, aber den Höhepunkt markiert zweifellos ein Aufenthalt im "Wirtshaus auf dem Mond", mitten in den entlegenen Waldkarpaten – ein obskures Gebäude, das früher ein Observatorium war und dann ein Sporthotel. Merkwürdige Leute versammeln sich hier, in der Gegend der sagenumwobenen Huzulen, einem archaischen Bergstamm, und zwischen die Intellektuellen mischen sich Stripteasetänzerinnen, Videofilmer und die Bodyguards von Wirtschaftsgrößen, ein märchenhaftes, verwegenes Treiben, das nicht zuletzt auch an den berühmten Grafen Dracula erinnert, den vielleicht finstersten Herrscher der Karpaten.

    "Die Gespenstergeschichten sind überall in dieser Gegend sehr populär. Jeder von uns, wenn er erste Ausflüge in die Karpaten gemacht hat, mit Übernachtungen im Zelt, auf der Hochalm, hört diese schrecklichen Geschichten mit Gespenstern, die überall erscheinen. Es gibt überhaupt keine Exotik in solchen Geschichten bei uns. Es gibt solche Sujets wie einen alten österreichischen Soldaten, in Habsburg-Uniform, der um Mitternacht erscheint. Oder zum Beispiel ein unsichtbares Pferd. Es gibt nur einen Laut, wenn die Hufe ertönen. Das sind nur zwei Beispiele, die ich selber erlebt habe, aber dort in den Karpaten ist das alles immer da, auf Schritt und Tritt. Auch die Hexerei. Oder eine Art von Kobolden, die man auf Huzulisch "Molnar" nennt. Das ist eine gute Gegend, um etwas in der Dracula-Art zu schreiben. Aber Dracula ist schon viel literarischer als das, was es für mich ursprünglich war. "

    Carl-Joseph Zumbrunnen entfernt sich immer mehr von Wien, seiner Heimatstadt, und geht in den ukrainischen Wirren völlig auf. Seine Wiener Geliebte verlässt ihn deswegen, aber das ist erst der Auftakt für einen mehr als bunten Reigen: in Lemberg verliebt er sich in Roma Woronytsch, die fortan als seine Dolmetscherin fungiert, und der Werbespot, den der Regisseur Jartschyk Magierski im "Wirtshaus auf dem Mond" für einen geldkräftigen Oligarchen drehen soll, entwickelt eine ungeahnte Eigendynamik. Sämtliche Schichten der vielfältigen ukrainischen Geschichte werden aufgewirbelt, die habsburgische, die polnische, die sowjetische. Die abergläubischen Bräuche der Huzulen mischen ihre grellen Farben hinein, und zum Schluss hebt Karl-Joseph Zumbrunnen ab und tritt einen magischen Flug über Mitteleuropa an. Juri Andruchowytsch spielt in diesem Roman mit allen möglichen Versatzstücken der ukrainischen Identität, die Anfang der neunziger Jahre so verwirrend aufbrach. Einen selbständigen Staat Ukraine hatte es nie zuvor gegeben. Die ukrainische Sprache hatte es neben und vor allem unter dem Russischen immer äußerst schwer, und auch heute ist Russisch für die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung die Muttersprache. Da ist es eine Provokation, wie Andruchowytsch in seinem Roman den mythischen ukrainischen Dichter Bohdan-Ihor Antonytsch auftreten lässt. Dieser hat sich 1939, erst siebenundzwanzig Jahre alt, das Leben genommen. Man weiß nicht sonderlich viel über ihn, außer, dass er als ein ukrainischer Klassiker gehandelt wird und sehr moralisch, sehr rein gewesen sei. Damit räumt Andruchowytsch auf. Er lässt den Dichter Antonytsch tanzen und wirbeln, Schnaps trinken und in rauschhafte Zustände aufgehen. Heilig ist da nichts mehr.

    "Ich habe einen alternativen Lebenslauf von Antonytsch geschrieben. Ich mag seine Texte sehr. Das fing schon damit an, als ich meine ersten Gedichte geschrieben habe. Ich war sicher, dass ich der beste ukrainische Dichter bin, aber niemand weiß das. Dann kam Antonytsch: Ja, noch ein nicht ganz schlechter Dichter. Nicht nur ich. Antonytsch ist immer mit einem Geheimnis verbunden. Er ist ein typisch verdammter Poet. Er steht in einer Reihe mit den französischen Symbolisten, mit Baudelaire, Rimbaud. Sein Leben ist für mich eine Möglichkeit, die verdammten Dichter zu beschreiben, die Lyrik als Schicksal, als etwas Verdammtes zu kreieren. In Wirklichkeit war sein Leben sehr langweilig. Eine immer schweigende Figur, die kein privates Leben hatte. Die Texte sind so, als ob sie ein Monster geschrieben hätte, ein, sagen wir, Jim Morisson der dreißiger Jahre. Mein Versuch war, sein Leben so zu ändern, als ob er wirklich ein echter Jim Morisson in den dreißiger Jahren gewesen wäre. "

    Der Roman "Zwölf Ringe" von Juri Andruchowytsch beschreibt virtuos eine Zwischenzeit, eine unwägbare Übergangsperiode, in der noch niemand weiß, in welche Richtung es letztlich wirklich geht. Verdrängtes, Verschwiegenes, Unverarbeitetes tritt plötzlich zutage, es geht drunter und drüber. Was die Ukraine ist, steht noch lange nicht endgültig fest, und es ist nicht einmal klar, welches die Rolle der ukrainischen Sprache künftig sein wird. In Andruchowytschs Roman spielen Missverständnisse eine große Rolle, es geht um grundsätzliche Fragen des Verstehens und des Nichtverstehens, und in tragikomischer Weise kommt die Hauptfigur Karl-Joseph Zumbrunnen auch darin um. Bevor Zumbrunnen seinen phantastischen Flug zurück nach Wien antritt, der den mythischen Schluss des Romans bildet, wird er nämlich von typisch ukrainischen Alltagskriminellen umgebracht. Der Grund dafür ist, dass er sich nicht verständlich machen kann. Er will eigentlich nur das Foto seiner Geliebten behalten, die Kriminellen glauben aber, dass er sein Geld zurückfordern will.

    Andruchowytsch hat in diesem Roman viele Bilder dafür gefunden, was in der Ukraine augenblicklich passiert, ein Umbruch, der natürlich auch ein Umbruch der Literatur ist. Das alte Regime der Oligarchen, die mafiosen Verstrickungen der Clans mit Russland und den fortwirkenden Mächten der Sowjetunion: das ist, bei aller Zauberei und Phantastik, der finstere Hintergrund des Romans. Andruchowytsch war bei der "orangenen Revolution" letzten Herbst und Winter in der Ukraine in vorderster Linie mit dabei, er ist eine Symbolfigur für die literarische Szene. Wie es weitergeht, ist zwar offen, aber es schwingt durchaus Optimismus mit. Und eine wunderbare, literarische Ironie, die hoffentlich noch einige Bücher wie "Zwölf Ringe" hervorbringen wird.

    "Ich kenne sehr viele Politiker, die heute zur Macht gekommen sind. Und manchmal kommen auch Reaktionen von ihnen. Als sie noch Opposition waren, haben sie alles, was ich geschrieben habe, sehr gut gefunden. Jetzt sind sie schon die Regierung, die Macht, und die Reaktionen sind schon sehr viel kälter geworden. Wir werden sehen. "