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Zehn Jahre nach dem Großen Beben
"All diese Leben waren in einem Moment vorbei"

Viele zehntausend Menschen starben, Millionen wurden obdachlos beim Großen Erdbeben vor genau zehn Jahren im chinesischen Sichuan. Wie geht es den Überlebenden heute? Besuch bei der Familie Lu, deren Stadt an einem anderen Ort wieder aufgebaut wurde.

Von Markus Pfalzgraf | 12.05.2018
    Aerial view of Yingxiu town left untouched as a memorial to the 8.0-magnitude Wenchuan Earthquake in 2008 in Wenchuan county, Aba Tibetan and Qiang Autonomous Prefecture, southwest China's Sichuan province, 19 April 2018. An aerial photo showed the Yingxiu town rebuilt a decade after it was destroyed by the 8.0-magnitude Wenchuan Earthquake in 2008 in Wenchuan county, Aba Tibetan and Qiang Autonomous Prefecture, southwest China's Sichuan province, 19 April 2018. This year marks the tenth anniversary of the deadly quake. Foto: Yang Yang/Imaginechina/dpa |
    Vom Großen Erdbeben zerstörte Orte wie Yingxiu wurden nicht wiederaufgebaut. Sie stehen als Mahnmal der Katastrophe am 12. Mai 2008. (Imaginechina)
    Die Hauptstraße des alten Běichuān ist noch heute kaputt. An einer Stelle haben sich die Platten bis zu einen Meter hoch übereinander geschoben. Kein einziges Haus ist mehr ganz, alle schief, beschädigt oder komplett eingestürzt, seit jenen nicht einmal zwei Minuten, die insgesamt 70.000 Menschen, vielleicht sogar bis zu hunderttausend das Leben kosteten.
    Doch der man, der jetzt hier auf der Straße steht, hatte Glück. Lu Tao, 49, lässiger Freizeitlook, kurze schwarze Haare, war gerade im Gespräch mit seiner Bankberaterin, als es passierte.
    "Ich war auf der einen Seite des Schalters, und sie dahinter. Wir waren nicht weit voneinander entfernt, aber ich habe es geschafft, und sie nicht."
    Nachdenklich zeigt er die Entfernung mit seinen Armen. Ein halber Meter, der den Unterschied machte zwischen Leben und Tod. Lu Tao steht vor einem riesigen Schutthaufen, der einmal eine Bank war.
    "Hier bin ich raus. Ich rannte die Stufen runter und fiel, dann wurde ich in die Luft geschleudert und fiel wieder. Dann bin ich hier rüber gerollt, zum Glück raus aus den Trümmern."
    Das Erdgeschoss hat als erstes nachgegeben
    Er deutet die Straße hinunter, wo noch Teile von Gebäuden stehen.
    "Aus dem Gebäude kam meine Frau. Das war mal ein zweistöckiges Haus, jetzt ist noch ein Stockwerk übrig. Meine Frau kam aus dem zweiten Stock. Ich war weit weg, sie war eingeklemmt. Ich hab sie rausgezogen, gerade bevor das Haus zusammenbrach."
    Bei den meisten Häusern, die noch als solche erkennbar sind, fehlt eine Etage, das Erdgeschoss hat als erstes nachgegeben. Genau in diesem Zustand wurde die ganze zerstörte Stadt belassen, seit zehn Jahren. Unbewohnbar, und als Mahnmal.
    Wenige Kilometer weiter erinnert auch ein Museum an die Katastrophe, an die gigantische Rettungsmaschinerie, die daraufhin anlief, Politikerbesuche, Heldengeschichten und wenige Opfergeschichten. Der chinesische Staat klopft sich selber auf die Schulter.
    Aber eben auch: bewegende Bilder von verzweifelten Rettungsversuchen im strömenden Regen. Und von geretteten Kindern. Lu Tao kommen die Tränen. Reden will er erst später, beim Essen, auch weil er Bedenken hat, sichtbar vor Ort darüber zu sprechen.
    "Wenn man heute dorthin geht, kann man immer noch sehen, was für eine Katastrophe in Beichuan passiert ist. Unter all den Ruinen sind immer noch die Überreste all der Leichen. Darunter meine Freunde, Familie, Bekannte. All diese Leben waren in einem Moment vorbei. Es ist unmöglich, dabei nichts zu fühlen. Da sind immer noch viele Gefühle, und dieses Ereignis werden wir niemals vergessen. Man muss es in seinem Herzen bewahren."
    Niemand hielt sich beim Beben auf den Beinen
    Dort, wo heute das Besucherzentrum steht, war einst die Schule, die landesweit bekannt wurde, weil hier mehr als tausend Schülerinnen und Schüler starben. Auch Lu Taos Sohn ging hier zur Schule. Lu Wenlong war damals 14 und im Klassenzimmer, als am 12. Mai 2008 um 14.28 Uhr die Erde bebte.
    "Wir hörten laute Geräusche, wie wenn Lkw vorbeidonnern würden. Staub kam von der Decke und die Lichter flackerten."
    Bis sie ausfielen. Niemand konnte sich mehr auf den Beinen halten, so stark war das Beben. Wer konnte, suchte Schutz unter Tischen. Als es vorbei war, rannten alle raus, komplettes Chaos, kaum fünf Meter Sichtweite, überall Staub. Schülerinnen und Schüler versuchten, sich zu helfen. Sie kamen nicht raus, und es dauerte bis zum Morgen, bis Hilfe kam.
    "Wir verbrachten die Nacht auf dem Sportplatz. Wir lagen in der Mitte, und drum herum auf der Leichtathletikbahn die Leichen der toten Schüler. Wir bedeckten sie mit Tüchern. Manche hatten keine Beine oder Köpfe mehr. Das war schrecklich."
    Lu Wenlong meidet normalerweise das Gespräch über die Ereignisse, und er meidet den Ort, an dem seine Mitschüler starben. Er ist heute 24, hat es zwar nicht auf die Universität geschafft, aber er ging zur Armee, und bald will er seine Freundin heiraten.