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Zehn rote Luftballons

Die Intelligenz der Masse anzapfen, das machen wir längst alle. Zum Beispiel, wenn wir via Internet nach Mitarbeitern suchen, indem wir die Freunde unserer Freunde kontaktieren. Aber lassen sich soziale Netzwerke auch nutzen, um komplexe Aufgaben zu lösen, die rasches Handeln und Interaktion erfordern? Um das herauszufinden, veranstaltete die US-Rüstungsforschungsagentur DARPA vor gut einem Jahr einen bizarren Wettbewerb, bei dem zehn rote Ballons eine Schlüsselrolle spielten.

Von Ralf Krauter | 16.03.2011
    Die Regeln waren simpel: Spüre zehn rote Wetterballons schneller als alle anderen auf und du bekommst 40.000 US-Dollar. So lautete die Ausschreibung der US-Rüstungsforschungsagentur DARPA. Der Haken dabei: Die zehn roten Ballons sollten an einem Tag X im Dezember 2009 an geheimen, quer über die USA verteilten Orten in die Luft gelassen werden und nur wenige Stunden sichtbar sein. Allein war die Aufgabe also unmöglich zu lösen.

    "Die E-Mail eines Freundes aus der Schweiz machte mich vier Tage vor Beginn des Wettbewerbs auf das Projekt aufmerksam. Ich stellte sofort ein Team zusammen und wir begannen Tag und Nacht zu arbeiten."

    Riley Crane erforscht am Media Lab des renommierten Massachusetts Institute of Technology bei Boston wie sich Informationen und Viren über soziale Netzwerke verbreiten. Die Jagd nach den roten Ballons wollte er sich nicht entgehen lassen. Aber wie rekrutiert man innerhalb von vier Tagen überall in den USA zuverlässige Informanten, die melden, wenn sie am Tag X einen roten Ballon sichten? Von früheren Experimenten zum sogenannten Crowdsourcing wusste Riley Crane, dass man die richtigen Anreize schaffen muss, um genügend Leute zu mobilisieren.

    "Die DARPA hatte 40.000 Dollar fürs Auffinden von zehn Ballons ausgesetzt. Wir sagten: Gut, das macht 4000 Dollar für jeden Ballon. Wenn du einen findest, bekommst du 2000 Dollar, den Rest spenden wir für wohltätige Zwecke. Aber das allein reicht natürlich nicht. Schließlich hätte so keiner etwas davon, seine Freunde ins Boot zu holen. Dazu braucht man ein rekursives Anreizsystem. Deshalb sagten wir: Wenn dein Freund einen Ballon findet, bekommt er die 2000 Dollar für die harte Arbeit. Und du bekommst 1000, weil du ihn mobilisiert hast. Und wenn der Freund deines Freundes den Ballon findet, bekommst du immer noch 500 Dollar, und so weiter. Diese Kaskade von Anreizen war der Schlüssel zum Erfolg."

    Der Rest war dann Handwerk. Die fünf MIT-Forscher programmierten eine Webseite, um Teilnehmer zu rekrutieren. Wer sich einschrieb, bekam einen Link, mit dem er seinerseits weitere Ballonjäger anwerben konnte. Bis zum offiziellen Wettkampftag hatten sich 5000 Teilnehmer direkt auf der Webseite angemeldet. Doch weil auch viele von deren per E-Mail, Facebook oder sonst wie informierten Freunden bei der Suchaktion mitmachten, kam eine kritische Masse von Beobachtern zusammen.


    Den Informationsfluss im Netzwerk am Tag X hat Riley Crane genau verfolgt und akustisch hörbar gemacht. Je höher der Ton, um desto mehr Ecken war der Informant angeworben worden.

    "Es war toll, dass wir so viele Unterstützer hatten. Aber am Tag X wurden wir von Daten überflutet. Leute meldeten aus allen Landesteilen rote Ballons, sogar in Kanada, Mexiko und mitten im Meer wurden angeblich welche gesichtet. Das ist ein typisches Problem, wenn man versucht, über soziale Netzwerke Antworten zu bekommen: Nicht jeder will, dass man die Lösung findet. Wir hatten 4000 konkurrierende Teams. Viele schickten uns massenhaft falsche Ballon-Koordinaten. Wir mussten also schnell einen schlauen Weg finden, um die Spreu vom Weizen zu trennen."

    Zuerst glichen die Forscher alle Ballon-Koordinaten mit der IP-Adresse der Computer ab, von denen sie verschickt worden waren. Wenn jemand, der in Vermont online ging, einen Ballon in Florida gesichtet haben wollte, wurde seine Meldung ignoriert. Genau wie Ballons, die mehrmals an exakt derselben Stelle gesichtet worden waren - echte Wetterballons bewegen sich nämlich ein Bisschen.
    "Laut Vorgabe hatten wir 14 Tage Zeit, die korrekten Koordinaten aller zehn Ballons zu nennen. Aber wir schafften es in 8 Stunden und 52 Minuten - viel schneller, als wir gedacht hatten."

    Anwendungen der konzertierten Suchaktion könnten sich einmal im Katastrophenschutz ergeben. Wenn nach einem Erdbeben wie in Japan Tausende ihre Angehörigen suchen, die Handynetze aber nicht mehr funktionieren, könnte die kollektive Suche via Crowdsourcing weiterhelfen. Zum Beispiel indem sich Mobiltelefone regional per Funk zu einem Ad-hoc-Netzwerk zusammen schalten und es so Wildfremden ermöglichen, Bilder von Vermissten und Geretteten auszutauschen. Noch ist das Zukunftsmusik. Aber die MIT-Forscher arbeiten dran.