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Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg

Wolfgang Sofskys Buch über die Zeiten des Schreckens erzählt im Grunde zwei Geschichten. Die eine ist komfortablen Zuschnitts und trägt den schlichten Titel ‚Globalisierung' nicht ohne Ironie. So heißt es:

Khosrow Nosratian | 11.04.2002
    Ein Jahrzehnt lang flogen Diplomaten, Experten oder Handelsvertreter um den Globus, übernachteten in Luxushotels und glaubten, daß alle Welt Englisch spricht und nichts anderes zu tun hat, als Nachrichten, Güter oder Ideale auszutauschen. Sie betrachteten alles in einer globalen Perspektive, also von oben herab. Hätten sie jemals das abgeschirmte Hotelgelände verlassen, so wären sie rasch an die Grenzen der bürgerlichen Ordnung geraten.

    Die andere Geschichte hat viele Gesichter. Sie berichtet von einem Jenseits der Grenzen von Recht und Staat. Dort regiert die Politische Ökonomie eines wilden Krieges - geboren aus Not und Elend, betrieben mit Haß und Grausamkeit.

    Verwegen dreinblickende Gesellen lungern an den Straßenecken herum, abtrünnige, verwahrloste Soldaten, Milizionäre, Söldner, Halbwüchsige. Diese Vorkämpfer des wilden Krieges sind nicht darauf aus, die Staatsmacht zu erlangen, die Grenzen der Nation zu verrücken oder eine politische oder ethnische Identität zu verteidigen. Denn er ernährt diejenigen, die ihn führen. Krieg ist ihr Leben, und ihr Leben ist der Krieg. Der Frieden brächte sie um die Grundlage ihrer Existenz.

    Für Sofsky beginnt die Hölle gleich nebenan. An der nächsten Ecke schon lauert todbringende Zerstörungswut. Deshalb untersucht der Autor die Gefahrenzone der menschlichen Gewaltsamkeit im Detail, konkret und von unten her. Seine Beschreibungskunst ist ebenso genau wie deftig. Das ‚Paradies der Grausamkeit' wird mit grellen Zügen illustriert.

    Die Sprache der Gewalt ist gellend und schrill: die Schreie der Verwundeten, das Gebrüll des Mobs, das Prasseln des Feuers. (...) Die Bewegung der Gewalt greift weit hinaus, sie erfaßt alle, die sich in der Nähe aufhalten. Sie duldet keine neutralen Zeugen, sie kennt nur Opfer, Mittäter, Feinde. Sie will nichts zeigen und auch nichts darstellen, sie ist pure Aktion. Der Amokläufer metzelt alles nieder, was ihm begegnet. Der Schlachtenbummler sucht nichts als den Kampf. Die Lynchmeute will sich empören und vernichten, was ihre Wut erregt. Das Mordkommando durchkämmt das Dorf und schlachtet alle ab, deren es habhaft wird.

    Ein Kriegsberichterstatter, nüchtern und schonungslos. So protokolliert Sofsky den Schlachtenlärm der Weltgeschichte. Entfesselte Gewalt gilt ihm als Signatur der Epoche. Vernunftkunst und Verstandesarbeit scheinen kaum der Rede wert. Diese kategorische Auffassung von den kulturfernen Konstanten der Menschenexistenz bezieht er von Elias Canetti. Vor 40 Jahren publizierte der spätere Nobelpreisträger für Literatur sein Buch ‚Masse und Macht'. Sofskys Fortschrift jener Psychogramme menschlicher Mordlust ist direkt und prägnant. Doch ist sie nirgendwo so deutlich wie in dem kurzen Passus, der von einem Besuch auf einem Friedhof erzählt. Hier, wo das Getöse der Gemetzel unversehens verstummt, exponiert der Meisterschüler die gemeinsame gedankliche Grundfigur.

    Ist es nicht eine heimliche Genugtuung, allein unter den Toten zu sein? Da liegen sie zu seinen Füßen, dicht beieinander, einer neben dem anderen, sorgsam aufgereiht, eine regungslose Gesellschaft. Er allein kommt und geht, wie es ihm gefällt, schlendert zwischen ihnen herum, gelassen und aufrecht, ein freier Gast.

    Canettis Überlegungen umkreisen die Genugtuung des Überlebens, ja ihren vollen Genuß. Vom Standpunkt seiner anthropologischen Forschung ist jene dauerhafte Menscheneigenschaft ein transhistorischer Habitus. Ein altindischer Herrscher ist Canettis exzessives Paradebeispiel.

    Eine stehende Einrichtung ist der Leichenhaufen vor seinem Palast. Alle Gefangenen läßt er sich täglich vorführen: als Kandidaten der Exekution sind sie sein kostbarster Besitz. Unter keinen Umständen läßt er vom Töten ab. Solange die Zahl seiner Opfer wächst, vermag nichts sein Selbstbewußtsein ernsthaft zu erschüttern.

    Unter eben dem Gesichtspunkt der Genugtuung studiert Sofsky die ‚Zeiten des Schreckens'. Doch hinter der Allgegenwart des Blutbads und seiner bestialischen Freuden, die das Buch im Stil der Sensationsreportage schildert, steckt eine scharfe Kritik. Sie zielt auf die Kulturphilosophie im Bewußtsein des Fortschritts. Denn auch sie frönt einem Befriedigungserlebnis - dem der Geschichtsversessenheit.

    Der analytische Wert der großformatigen Geschichts-, Zivilisations- oder Gesellschaftstheorien ist bescheiden. Immun gegen die Detailanalyse, taugen sie eher zum Entwurf von Weltbildern als zum Verständnis der Ereignisse. In den luftigen Höhen der Globaltheorie sind die Abstraktionsverluste hoch." (68) "Die große Erzählung von der Verbesserung des Homo sapiens, von der Veredlung seiner Gesittung, war nur eine Fiktion, ein Mythos. Der Glaube an den Fortschritt ist dahin. Utopien des Friedens und Ideale der Verständigung wirken eigentümlich hilflos, weltfremd, allenfalls tröstlich.

    Für Sofsky sind die Luxushütten der Kulturphilosophie an den Abgründen von ‚Amok, Terror, Krieg' erbaut. Umso heftiger attackiert er ihre hartnäckige Abschirmung vom Gefechtsgelände des Weltbürgerkriegs. Aus seiner Sicht sind ihre luftigen Abstraktionen nur ein bengalischer Budenzauber in den Grenzen der bürgerlichen Ordnung. Deshalb sind die kriegerischen Szenen des Buchs so plakativ gehalten, wird das wüste Treiben so massiv vorgeführt. Man soll sich daran stoßen - man wird sich daran stoßen.