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Zeitgenössische Musik
Sonnenenergie, vom ewigen Eis ins All zurückgestrahlt

Neue Musik hängt immer vom gesellschaftlichen Hintergrund ab, vor dem sie entsteht. Zwei neue Veröffentlichungen vereinen Werke, deren Komponisten mit sehr unterschiedlichen Konzepten Bezug auf politisch-gesellschaftliche Situationen nehmen.

Von Egbert Hiller | 21.05.2017
    Ein Eisberg in Süd-West-Grönland im August 2014.
    In Helmut Zapfs „Albedo“-Werkreihe geht es nicht um die tonmalerische Darstellung des Klimawandels, sondern um die Transformation damit verbundener Phänomene in klanglichen Prozessen. (picture-alliance / dpa / Albert Nieboer)
    Musik: Helmut Zapf, Albedo V; Modern Art Ensemble
    "Albedo V" für sechs Instrumente von Helmut Zapf. Zapf wurde 1956 in Thüringen geboren und erhielt seine Ausbildung im kirchenmusikalischen Umfeld, bevor er Meisterschüler von Georg Katzer in Berlin wurde. "Albedo" bezeichnet den Teil der Sonnenenergie, der vom ewigen Eis ins All zurückgestrahlt wird. Nun, da das Eis wohl doch nicht "ewig" hält, bekam der Begriff in der Klimaforschung neue Bedeutung, denn das Rückstrahlvermögen der Eisflächen ist für die Stabilität des Weltklimas von größter Wichtigkeit. Helmut Zapf geht es in seiner "Albedo"-Werkreihe aber nicht um tonmalerische Darstellung des Klimawandels, sondern um die Transformation damit verbundener Phänomene in klangliche Prozesse, die trotz ihres abstrakten Charakters unmittelbar sinnlich berühren. Auf Aspekte des Lebens und das gesellschaftliche Umfeld zu reagieren, ohne in plakative Stellungnahmen zu verfallen – dieser fruchtbare Ansatz trifft im Prinzip auch für Georg Katzer und Hermann Keller zu, die beiden anderen Komponisten auf der CD "…ins Extreme geschrieben", die vom Modern Art Ensemble brillant eingespielt wurde.
    Musik: Hermann Keller, Es war. Es ist. Wird es sein?; Modern Art Ensemble
    "Es war. Es ist. Wird es sein?"
    "Es war. Es ist. Wird es sein?" Von Hermann Keller, der in diesem Sextett von 2001 ein bizarres, emotional aufgeladenes Geflecht von Linien, Motiven und Gesten entwarf. Darin reflektierte er über die klassische Musiktradition ebenso wie er Anklänge an den "Free Jazz" verarbeitete, zu dessen Pionieren er in der ehemaligen DDR zählte. Das Werk mündet in einen ungewissen Ausgang, was sich nicht zuletzt auf Felder jenseits der Kunst übertragen lässt. Das Ungewisse interessiert auch Georg Katzer. In seinem Streichtrio mit der Überschrift "verschattet, flüchtig, meistens gedämpft" fasst er die radikale lyrische Verinnerlichung als "ins Extreme geschrieben" auf. Alle drei Komponisten begreifen diese Metapher, die ja zum Titel der CD geriet, als innermusikalisches Moment, obwohl die kritische Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Wirklichkeit für sie ein prägendes schöpferisches Kriterium war und ist: In der ehemaligen DDR, in der sie konsequent ihre eigenen Wege gingen, und in der Jetztzeit, in der sie sich mit ihren Mitteln, wie es Klaus Schöpp vom Modern Art Ensemble formuliert, "gegen mögliche ökologische, soziale und künstlerische Kollapse" wenden, "hervorgerufen durch eine materialistische, kommerziell durchorganisierte Gesellschaft".
    Musik: Georg Katzer, verschattet, flüchtig, meistens gedämpft, Modern Art Ensemble
    Soweit Georg Katzers "verschattet, flüchtig, meistens gedämpft". Die zweite CD, die ich heute vorstellen möchte, ist vom trio accanto und vereint westeuropäische Komponisten, die zum Teil ebenfalls auf aktuelle Fragen und Bedrängnisse eingehen. In manchen Stücken, alles Ersteinspielungen, geschieht das deutlicher und unverblümter als auf der CD des Modern Art Ensemble, andere muten hingegen weltferner an. Der Titel dieser CD lautet "funambule", auf Deutsch "Seiltänzer", und ist von einem Werk des Franzosen George Aphergis abgeleitet: "Trio funambule" für Saxophon, Klavier und Schlagzeug von 2014.
    Musik: George Aphergis, Trio funambule; Trio accanto
    Mit Virtuosität und hoher Expressionskraft widmet sich das Trio accanto dem permanenten Balanceakt der Instrumente in diesem musikalischen "Seiltanz". Korrespondiert der schwankende Grund in George Aperghis’ "Trio funambule" indirekt mit existenziellen Fragen, so thematisierte Rolf Riehm in seinem Trio "Basar Aleppo oder die Straße nach Tyros" ein aktuelles Geschehen – den Krieg in Syrien, von dem eine zugespielte Rezitatorin mit dokumentarischem Anspruch berichtet.
    Musik: Rolf Riehm, Basar Aleppo oder die Straße nach Tyros; Trio accanto
    "Schrecken der Realität"
    Die Schilderungen des Grauens flankierte Rolf Riehm auf textlicher Ebene mit poetischen Fragmenten aus dem babylonischen Gilgamesch-Epos; und die Musik pendelt markant zwischen harscher gestischer Kraftentfaltung und sensibler Zurückgenommenheit – denn Riehm wollte nicht nur die "Schrecken der Realität" aufzeigen, sondern auch den, wie er es nannte, "Tiefenraum der sinnlichen Erscheinung aufreißen". Um einen "Tiefenraum" der Geschichte dreht sich dagegen Johannes Schöllhorns "Sinaia 1916". Gemeint ist nicht nur die Sinai-Halbinsel, sondern auch die rumänische Stadt Sinaia, deren 1695 gegründetes Kloster sich einst mit dem christlichen Katharinenkloster auf der Sinai-Halbinsel verbinden wollte. Die musikalischen Spuren dieser Beziehungen wandelte Schöllhorn in entrückte Klänge um, mit denen er subtil die Vergangenheit auf die Gegenwart projizierte und umgekehrt.
    Musik: Johannes Schöllhorn, Sinaia 1916; Trio accanto
    Ist in Johannes Schöllhorns "Sinaia 1916" die Dimension der Erinnerung ein tragender Pfeiler, so fokussierte der Belgier Stefan Prins in "Mirror Box" die Dimension der Erwartung. "Flesh and Prosthesis"; "Fleisch und Prothese" lautet der Untertitel seines Stücks, der darauf verweist, die Möglichkeiten der Musiker aus Fleisch und Blut mit technischen Hilfsmitteln und Manipulationen radikal zu erweitern. Prins spiegelt damit im Medium der Tonkunst die Verfremdungen und Verzerrungen der Identität wider, wie sie sich in digitalen und virtuellen Erlebnisräumen immer krasser darstellen. Auch diesem vielschichtigen Klangstrom bleibt das Trio accanto mit Marcus Weiss, Saxophon, Nicolas Hodges, Klavier, und Christian Dierstein am Schlagzeug nichts schuldig.
    Musik: Stefan Prins, Mirror Box (flesh+prosthesis # 3); Trio accanto
    Soweit "Mirrox Box, "Flesh and Prosthesis Hashtag 3" von Stefan Prins. Die CD "funambules" des Trio accanto mit Werken von Georges Aperghis, Rolf Riehm, Johannes Schöllhorn und Stefan Prins ist beim Label WERGO erschienen; die CD "ins Extreme geschrieben" mit Werken von Helmut Zapf, Georg Katzer und Hermann Keller in der Edition Kopernikus. Soweit für heute Die neue Platte, vorgestellt von Egbert Hiller.
    CD-Infos

    "…ins Extreme geschrieben" - Helmut Zapf, Georg Katzer, Hermann Keller, Modern Art Ensemble; CD, Edition Kopernikus 003
    LC: 10618

    "Funambules" - Georges Aperghis, Rolf Riehm, Johannes Schöllhorn , Stefan Prins; Trio accanto; CD, WER 7358 2
    LC: 00846