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Zeitreise
Haare als gesellschaftsverändernde Kraft

Am 10. Oktober strahlt Arte die Dokumentation "Haarscharf! - Frisuren des Pop" von Marc-Aurele Vecchione aus. "Cheveux en bataille" heißt die Doku in der französischen Version, also: "Haare im Krieg". Der Film legt dar, wie Frisuren in fast sieben Jahrzehnten auch als Zeichen der Revolte eingesetzt wurden und werden.

Von Peter Backof | 09.10.2015
    Keath Haring und LL Cool J waren auch hier, signalisieren die Autogramme an den Wänden: Astor Place in New York ist ein Kult-Salon, den es - als Familienbetrieb - seit den 1940ern gibt. Astor Place wäre in der Hippie-Ära fast pleite gegangen: "Kein Mensch ließ sich mehr die Haare schneiden", erinnert sich Michael Javiello In der Dokumentation "Haarscharf!" von Marc-Aurele Vecchione. Heute ist Michael Javiello einer von fünfzig Friseuren, die hier an manchen Tagen gleichzeitig schneiden und stylen. Und so ginge es in diesem Laden auch seit Ende der Siebziger zu, als sich Astor Place – plötzlich und wie über Nacht - vor Kundschaft kaum noch retten konnte:
    Michael Javiello: "Diese ganzen jungen Leute ließen sich von alten Friseuren iher Haare schneiden. Denn die Frisuren, die in den Siebzigern Mode wurden, hatten sie alle schon in den Fünfzigern gemacht. Schon Humphrey Bogart und James Cagney hatten sich die Haare so rasieren lassen. Und die jungen Friseure wussten nicht, wie das geht, weil sie immer nur lange Haarschnitte gemacht hatten. Es war wirklich lustig, wie die ganzen jungen Punks zu diesen alten Herren gingen, um sich die Haare schneiden zu lassen."
    Auch Hip Hopper zog es anfänglich in Altherren-Salons. Friseur-Knowhow als Kriterium des Pop. Aber wie wird aus einer Frisur eine Pop-Frisur? Sie muss ein Detail – oder alles, wie beim Irokesen der Punks - ins Extreme führen, sagt Autor Vecchione, der für diese Dokumentation Salons in Paris, New York, San Francisco, London und Marrakesch, Marokko, besucht hat.
    Smutty Smithy: "Die Haare müssen gestuft werden. Sie müssen hier kurz sein, dann mittellang, dann lang, damit dieser nach hinten fallende Look entsteht."
    Chronologisch beginnt das bei den Teddyboys, Greasern. Pompadour- oder Bostoner Schnitt-Trägern: Rocker-Varianten der 1950er.
    Smutty Smith: "Die Teddyboys machten etwas, was sie nie zugeben würden: Sie taten Lockenwickler in die Haare und machten sie erst im letzten Moment heraus. Wie die Frauen. Es gibt sogar Fotos von Elvis mit Lockenwicklern."
    Autorentext Dokumentation: "Ob Teddyboys, Mods, Skins oder Punks: Sie alle erkennen sich auf der Straße mit einem einzigen Blick. Gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Faustschlag".
    Der Londoner Punk "Colin" oder das Blumenkind Bonnie Lockhart aus San Francisco erinnern sich an alte Zeiten:
    "Wenn wir damals Interviews gaben, stellten die Leute mehr Fragen zu unseren Haaren als zu unserer Musik."
    "Bei mir und meinen Freundinnen bestand der größte Protest darin, die Haare einfach zu ignorieren. Wir wollten nicht Stunden damit verbringen, uns für die Männer hübsch zu machen."
    Die These der Dokumentation: Jahrzehntelang habe es einen linearen Generationen-Konflikt wegen Frisuren und Haarlängen gegeben: Vokuhila versus Volahiku – oder: Hippies gegen Punks – oder: der Look der Eltern ist: Peinlich! - was Oma und Opa damals trugen dagegen schon wieder: Cool! Und dieser Konflikt sei mit den ersten Retro-Moden, seit den 1990ern zusammengebrochen. Seither ginge es um die Optik und nicht um ein Aufbegehren.
    Seither gebe es auch Hybrid-Szenen und -Frisuren, wo beim Aufeinandertreffen auf der Straße nicht mehr - wie bei Rockern und Skinheads - klar ist, welche andere Subkultur man anstelle des großen Ganzen, des Establishments, verprügeln könnte. - Afropunk ist eine dieser neuen Spielarten.
    Afropunk: "Ich würde sagen: Wir sind Punks. Aber auch gut gekleidete Gentlemen, die sich zu benehmen wissen."
    Die Textebene von "Haarscharf!" ist manchmal etwas beliebig: Hinter jeder Subkultur – wird behauptet - würden Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise stecken. Nun gut - aber: das viele Bildmaterial imponiert. Vom Afro-Frisuren-Werbespot um 1970 bis zum selbsternannten Star-Frisör "Baba Cool", der - aktuell - in einem prekären Pariser Stadtteil, seine "Mädels" ganz klar "im Griff" zu haben scheint. Insofern sehen wir ein gutes Stück Edu-Tainment.
    Baba Cool: "Das ist meine Straße, von hier bis da hinten. Ich laufe immer mit meinen Bodyguards durch die Gegend. Ich kann nicht alleien herumlaufen. Wenn man ein Starfrisör ist, wird man zu sehr beneidet. Ich brauche immer meine Bodyguards. Meine Mädchen hier sind auch Friseusen. Das ist ein Modell von Louis Vuitton. Ich habe sie abgeworben und jetzt ist sie Friseuse. Sowas schaffe nur ich."