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Zeitschrift "Akzente" mit neuem Konzept
Die Erfindung des Unmöglichen

60 Jahre lang war die Literaturzeitschrift "Akzente" eine kleine Schatztruhe, in der bekannte deutschsprachige Schriftsteller ihre Texte veröffentlichten. Mit einem neuen Konzept und einem programmatischen Titel ist die März-Nummer an den Start gegangen: "Unmögliches"

Von Marie-Luise Knott | 03.07.2015
    Jo Lendle zu Gast am Stand von Deutschlandradio bei der Frankfurter Buchmesse 2013
    Hanser-Chef Jo Lendle will der Zeitschrift "Akzente" neue Impulse geben (Deutschlandradio - Cornelia Sachse)
    Seid realistisch, verlangt das Unmögliche, lautete die Parole des Pariser Mai 68. Und Jacques Derrida formulierte später: Die einzig mögliche Erfindung ist die Erfindung des Unmöglichen. - Das Unmögliche ist offenbar ähnlich wie das Unsagbare und das Unsichtbare ein unbekanntes Territorium, das über die Jahrhunderte hinweg Künstler und Philosophen zu kleinen und großen Eroberungsversuchen anstachelte. Doch wem wäre es je gelungen, weit in jenes Reich vorzustoßen?
    Nun hat der Autor Clemens Setz, der in seinen Gedichten so herrlich das Abwesende im Anwesenden feiert, gemeinsam mit dem neuen Hanser-Verleger Jo Lendle die März-Nummer 2015 der Zeitschrift "Akzente" "Unmögliches“ betitelt.
    Was geschieht? "Akzente", 1954 von Walter Höllerer und Hans Bender im Hanser Verlag ins Leben gerufen, wurde seit Ende der 1970er-Jahre von dem Verleger Michael Krüger genial geleitet.Die Zeitschrift war eine "Schatztruhe", wenn man so will, in der 60 Jahre lang Haupt- und Nebengleisiges deutschsprachiger Autoren wie Enzensberger, Bachmann, Czernin, Brendel, Dana Ranga, Sartorius oder Grünbein mit Trouvaillen aus aller Herren Länder sich zusammenfanden - darunter Haikus, Gedichte, Essays und Reden von Adam Zagajewski, Katarina Frostenson, John Burnside, Dan Pagis oder Mahmud Darwish. In jeder Ausgabe begegnete man einer Vielfalt von Bildern und Stimmen, und jede Ausgabe hatte es in sich, weshalb der Dichter Jürgen Becker 2014 bei seiner Büchner-Preisverleihung den Wunsch äußerte, Krüger solle die "Akzente" bitte trotz seines Ausscheidens bei Hanser weiterführen.
    Erkundungen im Unlesbaren
    Jo Lendle, zuletzt Geschäftsführer bei DuMont, leitet nun seit 2013 den Hanser Verlag und will verständlicherweise, salopp gesagt: eigene "Akzente" setzen. Um sich neue (Un)möglichkeitsgebiete zu erkunden, hat er als erstes im Jahr 2014 die "Hanser-Box" ins Leben gerufen, und seither ist Mittwochs bei Hanser ebook-Tag. Zum Januar 2015 hat er das "Akzente"-Reich unter seine Fittiche genommen und schreibt ironisch im Vorwort, man müsse auch das Unmögliche, nämlich Krüger nachfolgen zu wollen, in Angriff nehmen.
    Entsprechend verpasste er der Zeitschrift für Frühjahr 2015 ein neues Konzept und ein neues Outfit. Künftig gibt es statt 6, nurmehr 4 "Akzente"-Hefte im Jahr, und aus Krügers "Schatztruhe" ist ein Themen-Kasten geworden. Band 1: "Unmögliches". Tatsächlich haben die beiden Herausgeber herrliche Unmöglichkeiten aus der literarischen Welt zwischen zwei türkismeerfarbenen Buchdeckeln zusammengetragen. Es gibt erstens die "unmöglich" zu entziffernden oder zu übersetzenden Manuskripte, zweitens die "unmöglich" zu edierenden Texte, da besessen und überbordend in ihrer Erzählweise, und es gibt drittens die "unmöglich" gebliebenen, nur im Kopf vorhandenen, nie niedergeschriebenen Werke, die vielleicht trotzdem auf ihre Weise auch die Welt verändert haben.
    Aus seinen Erkundungslektüren des unmöglich zu lesenden Buches "Dictionary of the National Biography" notiert Clemens Setz: "Dass in diesem unlesbaren Buch tatsächlich das ganze menschliche Leben enthalten sein könnte, so wie es John Fowles behauptete, erschien mir allmählich immer wahrscheinlicher. (...) Im Grunde schreit jedes Leben danach, von fachkundiger Hand rezensiert zu werden."
    Kurzstücke verschiedener literarischer Unmöglichkeiten
    Könnte es sein, so lautet die These, die sich durch das Heft zieht, dass phantastische, geheimnisumwobene und womöglich unmöglich gebliebene literarische Werke eigentlich die attraktivsten sind? Um uns mit ihrem Fieber zu infizieren, - haben die Herausgeber auf 94 Seiten Kurzstücke verschiedener literarischer Unmöglichkeiten versammelt, darunter zwei Druckseiten aus dem Epos des Dichters William Auld, der, vielleicht seines Fernwehs wegen, auf Esperanto schrieb. In diesem Gedicht steht das "Rätsel, dass wir unsere Existenz ein paar Hüftstößen verdanken" in unmittelbarer Spannung zum heutigen Fernziel vom Menschen als einem Weltraumflaneur. Auch Tao Lins amüsante zehnseitige Evolutionsgeschichte des Lebens vom Urknall bis heute mündet in der Möglichkeit, es gäbe außerirdische Intelligenzen, die aus reiner Information bestehen. Und der Kartograph Tim Robinson verfasst Erzählungen über Wanderungen, die ob ihres Detailwahns letztlich nur auszugsweise das Reich der Verwirklichung betreten können. In dem abgedruckten Auszug aus dem Mammutwerk "listening to the wind" durchwandert Robinson ein kleines Fleckchen Landschaft in Westirland: "Das Marschland ist unbequemes, rechthaberisches, kleinliches, streitlustiges Terrain; ein Vorankommen ist nur Schritt für Schritt möglich. (...) Manchmal allerdings nach einem dieser beinahe feierlichen oder rituellen Wanderungen bin ich enttäuscht, da ich nur so wenig in meinem geistigen Rucksack finde. Ich habe die Distanz nur körperlich und nicht geistig zurückgelegt."
    Im Gehen reflektiert der ganze Körper die Bodenbeschaffenheit und überfüttert seine Sinne mit Realien: mit Schafzüchtern, Grenzzäunen, Staudenknöterich. Mit Telegrafenmasten, die sich an Erlenzweige lehnen, und mit Heidekraut am Bachufer.
    "Dieses Heidekraut ist eine der berühmten Raritäten des Roundstone Moores, das Mediterrane Heidekraut, Erica erigena, das hier in Gleann Mór und an ein paar verstreuten Stellen an der Westküste von County Mayo wächst und das ansonsten in Europa nördlich der Iberischen Halbinsel nicht anzutreffen ist."
    Ein Schriftsteller als Entdecker-Geist
    Weiter geht die Geschichte vom Hölzchen auf Stöckchen und Ästchen - über Fruchtbarkeit des Bodens, Torflagerstätten und die familiären Verästelungen der seefahrenden O’Malleys. Was davon alles erfunden und was erforscht ist, spielt keine Rolle. Kein Wunder, dass Clemens Setz im Vorwort auf den Grazer Philosophen Alexius Meinong hinweist, der Anfang des 20. Jahrhunderts danach fragte, was eigentlich geschehe, wenn man der erfundenen Welt das gleiche Existenzrecht zubillige wie den Gegenständen der Wirklichkeit? - Ein Ding der Unmöglichkeit, möchte man meinen. Doch was heißt das schon? Schließlich weiß man, dass ein Teil der Weltliteratur zu Lebzeiten seines Autors nie das Licht der Buchwelt erblickt, sondern vom Schreibtisch in die Schublade und bestenfalls in irgendwelche Archivschränke wandert. Einen Auszug aus solch einem unmöglich gebliebenen Werk erfindet im Heft auch die 1981 in Odessa geborene Marjana Gaponenko. Und Norman Manea erkundet das Exil als die fünfte Unmöglichkeit Franz Kafkas.
    Wer je monothematische Zeitschriften gemacht hat, weiß, wie leicht sich Langeweile einschleicht. Es ist wie mit der Ein-Punkte-Partei: Eine spritzige Idee macht noch kein ganzes Heft. Hans Magnus Enzensberger mit seinem "Kursbuch" könnte uns sicher ein Lied davon singen. Als die Bewegung, mit der das "Kursbuch"groß geworden war, sich abschwächte, erfand er 1980 sich und uns die Zeitschrift "Transatlantik". Jo Lendle hat sich zur Inspiration für jedes Heft einen Schriftsteller als Entdecker-Geist hinzugeholt. Eine geniale Idee. Spritzig, interessant, anregend - ein Erfolg versprechendes Konzept, zumal auf diese Weise jedes Heft - auch - Einblick gewährt in den Kosmos des jeweiligen Autors, in unserem Fall in das literarische Umfeld des Clemens Setz. Die Themen und Namen der Hefte für 2015 stehen fest: mit Jan Brandt macht Lendle ein Heft zum Krieg, die Ausgabe mit Herta Müller trägt den Titel "Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen", und Monika Rinck wird die "Akzente" zum Thema "Witz" mitverantworten. Man darf gespannt sein.