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Zeitschrift "Kultur und Gespenster"
Wenn die Schlafüberwachungs-App nichts bringt

Elektrosmog, proaktive Lebensmittel und Lebensweisen: Die aktuelle Ausgabe des Zeitgeistmagazins "Kultur und Gespenster" dreht sich um das Thema "No Balance". Mit seinen 300 Seiten wird schon alleine äußerlich der Begriff der Zeitschrift gesprengt.

Von Peter Backof | 02.03.2017
    "Nerven wollen kein Bündel sein. Drum schmier sie mit Butter ein!"
    Fastenzeit also. Kann man ja auch digital: Eine Portion weniger nehmen, hiervon und davon. Für Smartphone und Laptop-Abstinenzler empfiehlt sich "To Go" die 18. Ausgabe des Magazins "Kultur und Gespenster": Mit 300 Seiten und großem Format eine gewichtige Zeitschrift. Trainiert die Arme schon beim in die Bahn Tragen. Beeindruckt andere Passagiere, die an ihren "gewöhnlichen" Geräten herum daddeln. Nora Sdun, Mit-Herausgeberin des Magazins meldet sich, nochmal digital, via App aus Hamburg und beschreibt das Thema der neuen Ausgabe so:
    "Die Fitness, die gefordert wird im Moment. Die Fitness ist die Krankheit, von der viele Leute befallen sind. Die Idee, dass man sich verbessern kann, et cetera. Das ist ein Krampf."
    Krank ist das neue Normal? Wobei...
    "Krankheit ist einfach Krankheit. Krankheit ist keine Metapher, auch kein Lebensgefühl. Das darf man nicht vergessen bei diesen ganzen Überlegungen. Es gibt Leute, die wirklich krank sind. Und dann hat das mit Hipness sehr wenig zu tun."
    "Der Maaagen, so überlaaaaden, von Surrogaaaten."
    Gemeint ist das Themenheft "No Balance" also nicht zynisch, sondern als großes Dossier rund um Zivilisationskrankheiten und medizinische Grenzfälle. Der erste von einem Dutzend Artikeln arbeitet heraus, dass es da Zyklen gibt, schon seit hundert Jahren. Da treten also neue Symptome auf, immer mit der Einführung einer neuen Technologie verbunden. "Hysterie" geisterte einst als neues "Frauenleiden" durch die Gazetten als die ersten großen Telefonvermittlungen aufmachten. Dann folge eine Phase der Rationalisierung – das sei also ein "Frauenleiden", weil ja nur Frauen als Telefonistinnen arbeiteten - sowie der Versuch der Pharmaindustrie, Kapital daraus zu schlagen. Und schließlich ein neuer Symptomzyklus. Dann kann man die Generation vorher auslachen: Wie dumm waren die denn?
    "Zucker, Zucker, Zucker, ist gesund und macht schön schlank."
    Schön krank, oder? Ist ja aktuell ganz anders bei Zuckerersatzstoffen und 24/7-Elektro-Sensibilität, für die uns die folgenden Generationen auslachen werden. Kultur und Gespenster Nr. 18, das ist also auch so eine Art großer Beipackzettel mit 300 Seiten Risiken und Nebenwirkungen, als Non-Profit-Projekt zusammengestellt von einer fünfköpfigen Redaktion. Nora Sdun, hauptberuflich Galeristin, wird auch an Nr. 18 nichts verdienen:
    "Der Spaß an der Konzeption eines Magazins: Es ist als ob man eine große Ausstellung kuratiert. Das ist ein Kombinationsgeschäft von Texten: Historischen Texten, Dinge, die man zweitverwertet, aus Büchern, die bereits erschienen sind."
    Das reicht von der Studie über Uniformtrends wie der Bomberjacke in der Mode bis zu einer "Philosophie des unternehmerischen Selbsts", dass man sich das Medikament Ritalin "reinpfeife", weil das "so schön fokussiert mache", auch schon im Studium! Wie man da drankommen kann? Legal oder illlegal - ein Fall, der bereits den ARD-Tatort zu einem Drehbuch inspirierte. Natürlich die etwas schräge Wache, mit Christian Ulmen und Nora Tschirner.
    "Nerven wollen kein Bündel sein. Drum schmier sie mit Butter ein!"
    Kultur und Gespenster, Nr.18, das ist eine ganz wunderbare und eigenständige Publikation – auch ästhetisch, mit Tarot-Karten-Layout als Illustration. In 2000er Auflage erscheint sie. Mehr als das Einspielen des Selbstkostenpreises wird dabei finanziell nicht heraus kommen, sagt Nora Sdun, die gezielt Bahnhofsbuchhandlungen beliefert. Ein bisschen streuen, Menschen erreichen – und beeindrucken - will sie am Ende ja schon. Wobei...
    "Man muss aufpassen, dass man nicht in so einen Schulterklopf-Modus verfällt, zu den Guten und Wichtigen gehört. Es ist eher so, dass man von einer gewissen Verrücktheit ergriffen ist. Es geht – hört sich pathetisch an – um die Wiederentdeckung der Unschuld aus dem Geiste der Reflexion."
    "Ja, Leute, mit Butter, ist alles in Butter"
    Kultur & Gespenster Nr. 18 - "No Balance"
    296 Seiten
    ISBN 978-3-941613-97-3
    Erschienen im: Textem Verlag 2017
    Preis: 16,00 €