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Zeitschrift "Lucky Peach"
Ein Bonbon für Hirn, Auge und Magen

"In 80 Cookies um die Welt", "Die Hot Dogs Asiens" oder "Kalter Kaffee und was wissenschaftlich dahintersteht" sind nur einige Überschriften aus der US-Zeitschrift "Lucky Peach". Es ist die große Delikatessen-Lektüre unserer Tage. Lucky Peach ist als Zeitschrift einzigartig.

Von Sacha Verna | 11.03.2016
    Eine Ausgabe der US-Zeitschrift "Lucky Peach" aus dem Oktober 2015 mit dem Titel "101 einfache asiatische Rezepte".
    Eine Ausgabe der US-Zeitschrift "Lucky Peach" aus dem Oktober 2015 mit dem Titel "101 einfache asiatische Rezepte". (imago / ZUMA Press)
    Neun Uhr morgens, Frühstücksservice in der Brasserie Lafayette, downtown New York. Gewiss keine ideale Geräuschkulisse für ein Radiointerview. Aber durchaus passend für ein Gespräch über Lucky Peach, eine Zeitschrift, deren aktuelle Nummer ausschließlich der ersten Mahlzeit des Tages gewidmet ist.
    "I had a bowl of granola and yogurt, boringly enough."
    Für Peter Meehan hat die erste Mahlzeit an diesem Tag aus Müsli mit Joghurt bestanden. Peter Meehan ist Mitbegründer und Redaktionschef von Lucky Peach. Lucky Peach ist ein Magazin übers Essen und Schreiben.
    "Ich war ein wütender junger Mann, als wir Lucky Peach gründeten, und fand, dass die wirklich fesselnden Geschichten übers Essen nicht publiziert und nicht erzählt werden."
    Von Streitgesprächen bis zur Autobiografie eines Schweins
    Das war 2011. Seither beglücken Peter Meehan, der Starkoch David Chang und der ehemalige Verlagslektor Chris Ying Lucky Peach-Leser vierteljährlich mit jener Sorte von Essgeschichten, die vor ihnen niemand publizierte und erzählte. Zum Beispiel mit einer Liste der besten Restaurants, die nicht existieren. Mit Tipps für die kulinarische Vorbereitung auf den Weltuntergang und für Menüs danach. Lucky Peach bietet Streitgespräche über Authentizität in der Küche, eine Taxonomie thailändischer Nudelsuppen, die Autobiografie eines Schweins und die Bekenntnisse eines Getreide-Junkies.
    Die Hefte sind monothematisch und die jeweils 130 bis 170 Seiten sorgfältig broschiert. Abgesehen vom Lucky-Peach-Logo und dem Format von 21,5 mal 26,5 cm gleicht keine Ausgabe der anderen. Genau deshalb freuen sich über 150.000 Enthusiasten über die Bonbons fürs Hirn, fürs Auge und für den Magen, die Lucky Peach ihnen in jeder vielfarbigen Nummer liefert.
    "Wir finden ein Thema, für das wir uns alle begeistern, und entfernen uns sofort so weit wie möglich wieder davon, um zu jenen Aspekten vorzustoßen, die uns wirklich interessieren."
    "Wir", das sind nach 17 Ausgaben Peter Meehan, seine beiden Mitherausgeber David Chang und Chris Ying sowie ein knappes Dutzend Leute in Büros in New York und San Francisco. Dazu kommen sehr viele, sehr gute freie Autoren.
    Im New Yorker Hauptquartier von Lucky Peach sitzt Peter Meehan mittlerweile. Die Frühstücksmusik in der Brasserie Lafayette ist zu laut geworden, um sich über die Erotik von Toastkrümeln im Bett und die atomare Struktur von Cornflakes zu unterhalten, daher der Ortswechsel.
    Am einen Ende des Loft wird an einem langen Tisch an der nächsten Ausgabe von Lucky Peach gearbeitet. Das Sujet lautet "Gegensätze". Essstadt San Francisco versus Essstadt New York. Essig und Öl, Hunger und Übersättigung, roh und gekocht. Die Vorschläge häufen sich.
    Bald kommt die Testküche
    Am anderen Ende des Loft stapeln sich Kisten voller Haushaltgeräte. Demnächst kriegt Lucky Peach eine eigene Testküche. Denn die Zeitschrift enthält durchaus auch Rezepte. Es sind nachkochbare Rezepte, jedenfalls die meisten davon. Dafür sorgen die Köche, von denen eine ganze Brigade mit und ohne Michelin-Sterne zur exquisiten Mischung in Lucky Peach beitragen. Darunter Anthony Bourdain, der mit seinem Bestseller "Bekenntnisse eines Küchenchefs" seinesgleichen überhaupt erst zum Status von Rockstars verholfen hat, den manche Köche heute genießen.
    Die übrigen Beiträge stammen von Journalisten und Wissenschaftlern, von Hobby-Imkern und Menschenrechtlern, von Illustratoren, Comicautoren und Fotografen, die mit der Hochglanzbebilderung herkömmlicher Gourmetmagazine so wenig am Hut haben wie mit trendiger Instagram-Ästhetik. Und da sind die Schriftseller. Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen jeder Ausgabe bildet nämlich die Literatur - in Form von Kurzgeschichten und Gedichten.
    Peter Meehan sagt, ihnen sei von Anfang an klar gewesen, dass Literatur und Lyrik dazugehören müssten, wenn sie die ganze Bandbreite dessen aufzeigen wollten, was Schreiben übers Essen vermag.
    Die Kurzgeschichte im ersten Heft hieß "Der Gourmet Club", 1918 verfasst vom japanischen Modernisten Junichiro Tanizaki. Darin gieren fünf Schlemmer nach immer ausgefalleneren Speisen, bis einer von ihnen ausgerechnet im Etablissement eines Chinesen auf die köstlichsten aller Köstlichkeiten stößt. Was das für welche sind, überlässt der Autor der Vorstellung des Lesers. Über die Instant-Befriedigung triumphiert bei Tanizaki das Schlaraffenland im Kopf. Lucky Peach bietet beides.
    Inzwischen ist Lucky Peach von toten auf lebende Literaten übergegangen. Peter Meehan und die Seinen geben Geschichten und Gedichte in Auftrag, und manchmal haben Autoren, deren Werke sie mögen, bereits etwas in der Schublade.
    "Die Geschichte im Heft über das Königreich der Pflanzen stammt von einer Frau, die gerade an einem Text über eine Marihuanaplantage auf dem Mars arbeitete. Wir dachten: Na prima, es kommen darin Pflanzen vor, das passt doch bestens in diese Nummer."
    So landete das absurde Abenteuer im All von Deborah Willis in Lucky Peach Nummer 15, unter dem Titel "Girlfriend on Mars", "Freundin auf dem Mars".
    Schreiben über Essen eine etablierte Gattung
    Mit seinen irdischeren Artikel, den Reportagen, Kochtagebüchern und epikureischen Touren durch nah und fern schließt Lucky Peach an das Beste an, das besonders die angelsächsische Essliteratur zu bieten hat. "Food Writing" ist in den USA und in Großbritannien ein fester Begriff. Das Schreiben übers Essen ist eine etablierte Gattung mit ihren eigenen Heroen, von Mrs Beeton und ihren Weisheiten über Pflaumenpudding bis zu M.F.K. Fisher und ihrer Liebeserklärung an die Auster oder Jeffrey Steingarten, dem Mann, der alles isst. Jedes Jahr erscheinen Anthologien mit den besten Essgeschichten, und "food writers", Essliteraten haben schon Pulitzer Preise gewonnen. Jonathan Gold etwa, der Restaurantkritiker der Los Angeles Times. Er gehört auch zu den regelmäßigen Mitarbeitern von Lucky Peach. Golds Definition der Kategorie "Dinge in Schüsseln" ist ein Stück Prachtsprosa in der Ausgabe über die japanische Volks- und Götternudel Ramen.
    Vor einem Jahr hat Lucky Peach seine Website lanciert. Erst vor einem Jahr, und das obgleich sich das Internet als Nirwana für Foodies erwiesen hat. Kein Möchtegern-Bocuse ohne Blog, jeder Back-Club mit eigener Homepage. Lucky Peach möchte sich auch digital vom Rest abheben. Aber das ist gar nicht so einfach. Als Zeitschrift ist Lucky Peach einzigartig, weil das totgesagte Printmedium darin aufs Schönste wieder auflebt. In der virtuellen Welt der Neuen Medien bekommt ein so altmodisches Objekt wie ein liebevoll gestaltetes Magazin plötzlich einen besonderen Wert. Dessen sind sich die Herausgeber von Lucky Peach bewusst. Ihre Zeitschrift wird nicht ins Netz desertieren, das haben sie sich geschworen.
    "That's ultimately just not our place."
    Da gehörten sie nicht hin, so Peter Meehan.
    Was auf die Seiten von Lucky Peach gehört sind hingegen die Spuren der Mahlzeiten, die man daraus nachgekocht hat. Etwa die Delikatesse aus Mais, Miso und Speck nach einem Rezept in Haikus. Oder die heiße Schokolade nach mexikanischer Art. Dieses fabelhafte Getränk ergibt zusammen mit der jüngsten Ausgabe von Lucky Peach garantiert ein vorzügliches Frühstück.
    "Lucky Peach"-Einzelausgaben sind online für 12 Euro erhältlich. Ein Abonnement in Europa für vier Ausgaben pro Jahr kostet 48 Dollar, ca. 45 Euro.