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Zeitz in Sachsen-Anhalt
Bei den einstigen Kinderwagenbauern

In keiner anderen Stadt gab es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts so viele Firmen, die Kinderwagen bauten, wie in Zeitz. Zu DDR-Zeiten arbeiteten über 2.000 Mitarbeiter in der größten Kinder- und Puppenwagenfabrik Europas. Übrig geblieben sind Erinnerungen, eine riesige Fabrikruine und das Deutsche Kinderwagenmuseum im Schloss Moritzburg.

Von Sibylle Kölmel | 06.04.2015
    Die Leiterin des "Deutschen Kinderwagen Museums", Kristin Otto, steht im Schloss in Zeitz (Sachsen-Anhalt) neben einer Gruppe Zeitzer Kinderwagen aus der Zeit um 1900.
    Das Deutsche Kinderwagenmuseum in Zeitz. Kristin Otto ist die Museumsleiterin. (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    An diesem frühen Nachmittag fällt auf Zeitz ein kräftiger Regen - und es ist ziemlich kalt. Hans-Joachim Strauch und Gisela Sommer haben das Auto daher direkt vor dem ehemaligen Kinderwagen-Fabrikgebäude geparkt - einem großen, roten Jugendstilbau mit prachtvoller Fassade - hinter der es, seit der Wende, beträchtlich bröckelt. Die beiden älteren Zeitzer müssen sich erst mal einen Weg bahnen, durch dichtes Gestrüpp und an großen und kleinen Schutthaufen und eingeschlagenen Fensterscheiben vorbei:
    Er: "Hier sind viele Gebäude weggerissen worden - das sehen sie ja hier das waren alles noch Bereiche wo Leute gearbeitet haben. Hier war der Haupteingang - mit Pförtner mit allem drum und dran. Überdacht. Nach der Wende wurde das alles weg entsorgt. Sie: "Ne Brücke ging doch hier lang nich? Von dem Gebäude". Er "Aber du kommst hier nicht durch". Sie: "Oh Gott. Warte mal, ich muss mal gucken, halt mich mal fest" - Er: "Ja, komm her. So. Man sieht wir haben viele Besucher hier. Vandalismus - es ist schade drum. Das Gebäude steht ja auch unter Denkmalschutz."
    Hans Joachim Strauch und Gisela Sommer haben zu DDR-Zeiten beide bei ZEKIWA gearbeitet - ein ganzes Berufsleben lang. Er war Lehrobermeister - und sie "Sachbearbeiterin für Arbeitskräfte-Lenkung". Jetzt stehen sie zwischen den maroden, hohen Gebäuden und Hallen auf einem riesigen Platz - und blicken nach oben. Für Gisela Sommer ist es der erste Besuch hier seit 25 Jahren:
    Die DDR brauchte immer mehr Kinderwagen
    Sie: "Hier habe ich gesessen. Ich bin 1990 in die Rente gegangen, am 3. Oktober war mein letzter Arbeitstag." Er: "Das war der Verwaltungstrakt, komplett alles, und hier war unten die Schmiede, also wir haben zur Schmiede gesagt Metallbau wo man zuschneidet, wo man biegt - alles wurde hier unten gemacht - und hier oben waren dann schon die Produktionsräume. Hier sind Gebäude weggerissen - das waren hier die Zwischenlager - hier hatten wir Zwischenlager für die Produktion. Also das immer zugeführt werden konnte. Sie: "Ganz oben war die Näherei, dann kam die Endmontage und noch mal ne Endmontage - und hier war eben die von der Metallverarbeitung, die Abteilung."
    Kacheln, Elektroleitungen, Heizungsrohre - alles leer geplündert - Graffitis an den Wänden, und durch die Dächer regnet es rein. Heute ist schwer vorstellbar, dass man hier über ein Jahrhundert höchst erfolgreich Kinder- Sport-, Zwillings- und Puppenwagen herstellte, dass ganze Zeitzer Familien über Generationen in diesem Bereich tätig waren. Denn bereits ab 1850 baute der Zeitzer Stellmachermeister Ernst Albert Naether Kinderwagen. Später übernahmen seine Söhne, ließen 1908 die großen Naetherschen Fabrikanlagen errichten - und verkauften die Wagen in unterschiedlichen Modellen und Ausführungen schon damals in viele Länder, als eine der erfolgreichsten und größten Produzenten Europas. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Firma enteignet - und ging in der DDR, mit anderen Fabriken, die ebenfalls Kinderwagen produzierten, in den VEB ZEKIWA - den volkseigenen Betrieb "ZEitzer Kinderwagen Industrie" ein. Die Anfangsjahre bei ZEKIWA gestalteten sich zäh - es fehlte an Material und Werkzeug, die Arbeitsbedingungen waren schwierig - und oft gesundheitsschädlich. Dann zogen die Planvorgaben aus Berlin an.
    Originalton Augenzeuge (Wochenschau) 1955:"In Zeitz werden täglich etwa 1.000 Kinder-, Sport- und Puppenwagen gebaut. Viel Technik und Mühe wird aufgewandt, um Müttern und Sprösslingen ansehnliche und strapazierfähige Fahrzeuge zu liefern. Mit drei Tagen Planvorsprung bis zum Juli will die volkseigene Kinderwagen-Industrie helfen, die große Nachfrage zu befriedigen. Der Wunsch nach autoähnlichen Karosserien behindert sehr die Herstellung zweckmäßiger und auch billigerer Kinderwagen. Bleibt zu sagen, dass Zeitzer Babywagen in vielen Ländern geschoben werden."
    Die DDR brauchte immer mehr Kinderwagen, um sie in die Sowjetunion zu exportieren - und nach Westeuropa - und da vor allem in die BRD. Anfang der 60er Jahre begann die Arbeit am Fließband, das Hochfrequenzschweißen wurde eingeführt - und später eine Förderbrücke über den Fluss direkt zu den Güterwagen auf den Bahngleisen gebaut. ZEKIWA bekam eine Qualitätsauszeichnung nach der anderen.
    Sie arbeiteten jetzt in drei Schichten - hauptsächlich waren es nämlich Frauen, die die über 15 Länder ab den 70er Jahren jährlich mit rund 600.000 Kinder-, Sport- und Puppenwagen versorgten. Einige dieser ehemaligen "Zekiwanerinnen" treffen sich heute noch immer, einmal im Monat, immer am ersten Mittwoch, in einem Café am Zeitzer Stadtrand. Erinnerungen. Brigitte Hüfner stand lange als Monteurin am Fließband. Als sie bei ZEKIWA anfängt, ist sie 14:
    "Bei uns in der zweiten Etage waren vier Fließbänder, wo ich jetzt dran gearbeitet habe. Und da wurden hinten die Teile alle aufgelegt und jeder Arbeiter hatte da sein ... wie sagt man ... seine Arbeit, der eine musste das machen der andere musste das machen - bis vorne am Ende der fertige Wagen rauskam und dann wurde der dort dann eingepackt. Ich war 41 Jahre in dem Betrieb. Und mir hat’s sehr gut gefallen, ich habe geheult, wo ich gehen musste."
    Einige wenige Mitarbeiter machen weiter
    Margarete Baum hat am Fernschreiber gearbeitet:
    "Der größte Abnehmer war Russland. Wie viel haben wir nach Russland geliefert am Tag. Ne, ein zwei Waggons. Waggons! Nicht? Und nach dem Westen, wir waren ja ob das Otto ob das Neckermann ... na was gab’s denn da ... Quelle, da waren ja überall die Zeitzer Kinderwagen drinne. Aber da hat nicht ZEKIWA draufgestanden. Ne, und dann ging’s ja auch um die Preise. Und es ist ja so gewesen dass wir produziert haben unter dem Herstellerwert. Und die kosten waren bei uns ja sowieso relativ gegenüber dem Westen gering - und trotzdem haben wir noch unterm Herstellerpreis die Wagen verkauft".
    Und Birgit Leutner, die in Werk 2 die Puppenwagen mitbaute, erinnert sich an deren Verladung:
    "Wir haben direkt ne Rampe gehabt praktisch in ZEKIWA werk II, hoch auf den Boden wurde das sortiert das kam dahin das kam dahin das kam dahin - wir hatten Karteikarten und da ging das alles los. Und da ging das die Rutsche runter und da waren drei Arbeiter und da ging das in die Waggons rein. Gut es kamen auch LKWs - Frankreich und so die kamen dann auch mit großen Trailer angefahren. Das war auch schon drin."
    Nach der Wende dann bricht alles zusammen - und das ziemlich schnell. DDR-Bürger kaufen jetzt Waren aus dem Westen - viele der Kinder- und Puppenwagen werden verramscht - und die meisten Angestellten arbeitslos. Die Treuhand verkauft das alte Werk an verschiedene Investoren. Seitdem verfallen die 6.000 Quadratmeter mehr und mehr. Es fehle, so Kathrin Nerling von der Stadt Zeitz, ein "schlüssiges Gesamtkonzept":
    "Dieses sehr Stadtbild prägende Objekt ZEKIWA steht nun leider schon seit der Wende leer, hatte zwischenzeitlich auch verschiedene Eigentümer, und wurde dann im Auftrag der Stadt von der DSK erworben, mit dem Ziel, dort gemeinsam einen Nutzer zu finden. Dies ist bis jetzt leider noch nicht erfolgt, noch nicht geschafft, dies Ziel noch nicht in reichbarer Nähe, aber es gibt in nächster Zeit kein anderes Konzept seitens der Stadt als darauf einen Nutzer zu suchen."
    Einige wenige Mitarbeiter machen weiter - ein neues, kleines Kinderwagen-Unternehmen hat sich gegründet, allerdings außerhalb von Zeitz. In der kleinen Stadt selbst erinnert - neben den Ruinen - nur noch das "Deutsche Kinderwagen-Museum" an die produktionsreichen Zeiten - untergebracht ist es im ersten Obergeschoss im Nordflügel von Schloss Moritzburg - derzeit die größte deutsche Sammlung in öffentlicher Hand. Kristin Otto, die Museumsleiterin, schließt die große Tür auf.
    Kinder- Sport, - Zwillings- und Puppenwagen und alte Spielkutschen in allen möglichen Varianten, in unterschiedlichen Farben, Formen, aus verschiedensten Materialien - und: aus allen Epochen - auch viele ZEKIWA-Modelle stehen hier. Die Museumsleiterin geht an großen Schautafeln und an einer der Glasvitrinen vorbei, in der zahlreiche historische Baby-Utensilien, Fotokarten und Kataloge ausgestellt sind - und zeigt auf einen der historischen und reich verzierten Wagen auf einem Podest: Er ist der Älteste der Sammlung - stammt aus dem Jahr 1860 und: selbstverständlich aus Zeitzer Produktion:
    "Das ist im Prinzip ein altes Ackerwagengestell, aus Holz, mit Eisenbeschlägen, und oben drauf ist eine geflochtene Wanne gesetzt, so wie man sie von Wiegen oder Stubenwagen kannte. Noch mit einem festen Verdeck - und vor allem mit einer Stange zum Ziehen."
    Das Museum plant, die Ausstellung zu erweitern
    Um 1870 setzt sich dann mehr und mehr die Schubstange durch - dadurch brauchte man die lenkbare Achse nicht mehr. Die Wagen wurden so leichter und handlicher. Statt der Holzräder mit Eisenbeschlag befestigten die Monteure gummibereifte Metallräder - dann verbesserten sie die Federungen. Mitte der 90er hat die Museumsleiterin Kristin Otto die Ausstellung neu konzipiert:
    "Mit der Neuausrichtung als Deutsches Kinderwagenmuseum haben wir uns vor allem darum bemüht, unsere Sammlung auch breiter aufzustellen, das heißt, wir haben also den Anspruch die gesamtdeutsche Kinderwagenproduktion auch zu vertreten - und deswegen haben wir auch speziell in Richtung der alten Bundesländer auch gesammelt in den vergangenen Jahren."
    Auch heute noch kauft sie an. Und hin und wieder treffen auch - oft liebevoll gepflegte - Schenkungen im Museum ein:
    "Man konnte sich im 19. und frühen 20. den Kinderwagen ähnlich zusammenstellen wie heute wenn man geht, und kauft sich einen Neuwagen - also da hat man ausgesucht, ob man das Untergestell nur verzinkt haben möchte oder in einer bestimmten Farbe lackiert da gab‘s Normfarben und Sonderfarben, dazu gab‘s verschiedene Lackfarben zum Beispiel für ein Peddingrohrgeflecht wenn das so eine Wanne war die geflochten war, und Sonderfarben für das Ledertuch mit dem die Wanne bespannt war - üblicherweise waren die wahrscheinlich viel simpler und es gab vielmehr einfache Kinderwagen, die sich aber nicht so erhalten haben in der Sammlung."
    Die rund 20.000 Besucher im Jahr, darunter auch viele Schulklassen, kommen meist aus dem näheren Umkreis. Für 2015 plant das Museum, die Ausstellung zu erweitern - längerfristig soll eine weitere ganze Schlossetage hinzukommen.
    Gisela Sommer und Hans-Joachim Strauch stehen derweil in einer der riesigen leeren Fabrik-Hallen. Es regnet immer noch:
    Sie: "Ich bin so traurig, was aus diesem Gebäude aus dieser Fabrik geworden ist. Da kriegt man Gänsehaut. Manchmal hatte man die Schnauze voll aber trotzdem gings den anderen Tag wieder weiter. Sozusagen (lacht). Er: Mulmig ist das alles. Ungutes Gefühl. Aber wir hoffen, dass wir das soweit retten können - das wir das der Nachwelt erhalten. Denn Zekiwa und Zeitz das kann man nicht trennen - das gehört dazu."