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"Zeitzeugen wirken immer noch am meisten"

Der Nationalsozialismus sei auch unter Jugendlichen immer wieder Gesprächsgegenstand, meint der Extremismusforscher Klaus Schröder. Ohne Zeitzeugen werde die Aufarbeitung der NS-Zeit jedoch sehr schwer. Im Bezug auf die Gewaltbereitschaft von Neonazis in Deutschland seien, laut Schröder, sowohl der Verfassungsschutz als auch die Initiativen gegen Rechtsextremismus "blauäugig" gewesen.

Klaus Schröder im Gespräch mit Sandra Schulz | 27.01.2012
    Sandra Schulz: Dieser Tage kommt eine Menge zusammen: Die Diskussion um die jahrelange Mordreihe der Zwickauer Neonazi-Zelle, wieso kamen die Ermittler mit mehreren Jahren Verspätung auf den rechtsextremen Hintergrund und die Meldungen von Anfang dieser Woche über einen immer noch oder schon wieder weitverbreiteten Antisemitismus in Deutschland. Themen, die den heutigen Holocaust-Gedenktag zu einem Tag machen, der nicht nur für die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit steht, mit dem Mord der Nationalsozialisten an rund sechs Millionen Juden, sondern auch für Diskussionen, die leider wieder aktuell sind.
    Mitgehört hat der Extremismus-Forscher Professor Klaus Schröder von der Freien Universität in Berlin. Er ist jetzt am Telefon. Guten Tag!

    Klaus Schröder: Guten Tag, Frau Schulz.

    Schulz: Herr Schröder, das Holocaust-Gedenken, an einem Tag wie heute steht es natürlich in der Öffentlichkeit. Und sonst?

    Schröder: Sonst auch. Die Jugendlichen vor allen Dingen werden in den Schulen und über die Medien immer wieder mit diesem Thema konfrontiert und sie sind hier auch aufnahmebereit. Wir führen derzeit gerade eine Auswertung einer Befragung durch von mehreren Tausend Jugendlichen, und hier haben zwei Drittel etwa der Jugendlichen gesagt, ja, wir müssen uns weiter intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. 80 Prozent etwa konnten mit dem Namen Auschwitz etwas assoziieren - das richtige. Also es gibt doch viel mehr Resonanz für die weitere Auseinandersetzung, als es manchmal scheint.

    Schulz: Das heißt, es ist ein Vorurteil, dass die jungen zu wenig wüssten über den Holocaust?

    Schröder: Nein. Sie wissen über den Nationalsozialismus und den Holocaust viel mehr als über andere Zeitepochen zum Beispiel. Sie wissen weniger über die alte Bundesrepublik, aber der Nationalsozialismus ist immer wieder Gesprächsgegenstand in Familien, in den Schulen und wahrscheinlich auch unter den Jugendlichen selbst.

    Schulz: Wie kann das künftig aufrecht erhalten werden? Wir haben heute Vormittag Marcel Reich-Ranicki gehört, er ist schon jetzt einer der wenigen überlebenden Zeitzeugen des Warschauer Ghettos. Wie kann dieses Gedenken, wie können diese Erinnerungen künftig ohne Zeitzeugen wach gehalten werden?

    Schröder: Das wird sehr schwer, denn die Zeitzeugen wirken immer noch am meisten. Sie sind eindrucksvoll, sie hinterlassen Spuren auch im historischen Gedächtnis von Menschen, gerade von Jugendlichen. Aber es gibt mehrere Projekte, wo Gespräche aufgezeichnet werden, entweder als Tonband- oder als Fernsehaufnahme. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, solche Medien dann zum Einsatz zu bringen, damit die Zeitzeugen nicht aus dem Gedächtnis verschwinden, damit sie immer präsent sind, denn sie können das individuelle Schicksal beschreiben und das rührt die meisten doch mehr an, als wenn man einfach etwas liest, was pauschalisiert wird.

    Schulz: Wenn wir einen Schwenk machen zu den Themen, die uns aktuell jetzt auch beschäftigen – die Mordserie der Neonazis -, welchen Reim machen Sie sich darauf, dass es so lange gedauert hat, bis die Ermittler da auf die richtige Spur kamen?

    Schröder: Das ist mir ehrlich gesagt unerklärlich. Hier liegt ein Versagen der Verfassungsschutzämter vor. Dies nicht zu wissen, nicht zu ahnen, nicht mitzubekommen über so viele Jahre, kann ich mir einfach nicht erklären und ich hoffe, dass die Untersuchungsausschüsse hier mehr Klarheit bringen werden. Aber auch die ganzen Initiativen, die es ja gibt gegen Rechtsextremismus, auch die haben ja nicht geahnt, dass hier eine Mordserie aus rassistischen Motiven vorliegt. Also wir waren da einfach zu blauäugig und haben geglaubt, na gut, es gibt eben Skinheads, es gibt Rechtsextreme, aber zum systematischen Morden sind die doch gar nicht fähig. Das war ein Fehler, eine Fehlwahrnehmung, und das muss korrigiert werden und wir müssen viel aufmerksamer, nicht nur der Verfassungsschutz, sondern auch die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft, die Politiker, beobachten, wo kann es möglich sein, dass extremistische Einstellungen zu extremistischen Handlungen dann übergehen, denn da liegt ja sozusagen die Grauzone, die sehr schwer zu bestimmen ist.

    Schulz: Sie haben gerade gesagt, "blauäugig". Es steht der Vorwurf im Raum, die Ermittler seien weniger blauäugig als vielmehr auf dem rechten Auge blind gewesen. Stimmt das?

    Schröder: Das könnte ich so nicht bestätigen. Nun wissen wir ja nicht das meiste, was die Verfassungsschutzämter machen, aber der Rechtsextremismus war schon immer im Visier auch der Öffentlichkeit, viel stärker als der Linksextremismus. Bloß dieser Sprung zum Terrorismus hin, zum Morden hin, das hatte man nicht im Visier, das hat man nicht angenommen, die meisten oder fast alle jedenfalls nicht, und das wäre Aufgabe des Verfassungsschutzes gewesen, hierauf hinzuweisen, die Gefahrenpotenziale, die es bei diesen kleinen Gruppen gibt. Das hat der Verfassungsschutz nicht gemacht und darin sehe ich das eigentliche Versagen.

    Schulz: Sie haben gerade auch schon auf den Untersuchungsausschuss angespielt, der sich heute ja konstituiert im Bundestag. Können Sie noch konkreter machen, was Sie sich davon erhoffen?

    Schröder: Mehr Transparenz über die Arbeit des Verfassungsschutzes gerade in diesem Bereich, denn es kann nicht sein, dass wir auch zukünftig solche Überraschungen erleben. Dann wäre der Verfassungsschutz in der Tat ja überflüssig. Seine Aufgabe ist es, genau zu schauen, genau zu analysieren, wo extremistische Anschauungen dann übergehen in extremistische Handlungen, sprich zu Anschlägen, zu Mordserien und so weiter und so fort, also gibt es die Gefahr eines Rechtsterrorismus auch weiterhin, oder war das nur eine kleine Gruppe, ist sie vernetzt gewesen. Alles das muss jetzt mal rauskommen und dann müssen auch die Verhaltensweisen des Verfassungsschutzes selber, vor allen Dingen in Thüringen, beleuchtet werden, ob hier nicht fahrlässiges Verhalten vorliegt.

    Schulz: Glauben Sie denn, dass ein Untersuchungsausschuss das leisten kann, dass der Verfassungsschutz sich wirklich so in die Karten wird blicken lassen?

    Schröder: Ja, er kann es. Wenn der Wille da ist und wenn dieser Untersuchungsausschuss nicht parteipolitisch instrumentalisiert wird, dann besteht die Chance, dass mehr herauskommt, und – das ist das Entscheidende – dass dann zukünftig die Arbeit anders organisiert wird, damit solche Fehler nicht mehr vorkommen.

    Schulz: Wie, wenn man das ganz pauschal versuchen will, zuzuspitzen, ist denn die Gefahr, die rechter Extremismus für Deutschland im Moment derzeit darstellt?

    Schröder: Wenn Sie das international vergleichen, von den Einstellungsmustern her, liegt Deutschland weit unten. Wir haben sehr wenige Bevölkerungsteile, die geschlossen rechtsextremistisch eingestellt sind. Aber bei uns ist es eben aufgrund der historischen Situation etwas anderes. Hier sind ein paar Prozentpunkte schon viel brisanter, als wenn in Italien 15, 20 Prozent rechtsextrem eingestellt sind. Also die Gefahr in der Masse sehe ich nicht; ich sehe eher die Gefahr, dass entschlossene Leute wie jetzt diese sogenannte Zwickauer Truppe, dass solche Leute zu solchen Gewalttaten schreiten. Aber in der Bevölkerung selber sehe ich nur sehr wenige, die rechtsextrem eingestellt sind. Hier ist keine Bedrohung der Demokratie derzeit absehbar.

    Schulz: Der Extremismus-Forscher Professor Klaus Schröder von der Freien Universität in Berlin, heute in den "Informationen am Mittag" hier im Deutschlandfunk. Danke!

    Schröder: Bitte.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.