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Zentralrat der Muslime: "Unser 9/11 ist der NSU-Terror in Deutschland gewesen"

"Der Rechtsextremismus in Deutschland konnte gedeihen im Schatten des 11. Septembers", kritisiert Aiman Mazyek, Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Und: "Es gibt noch viel zu viele Weggucker vor dem Rechtsextremismus."

Aiman Mazyek im Gespräch mit Martin Zagatta | 15.12.2012
    Martin Zagatta: Sehr scharfe Kritik an den deutschen Behörden und den verantwortlichen Politikern haben dagegen muslimische Verbände geäußert. Und wir sind jetzt mit Aiman Mazyek verbunden, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Guten Morgen, Herr Mazyek!

    Aiman A. Mazyek: Ja, schönen guten Morgen!

    Zagatta: Herr Mazyek, bei aller Kritik, die Sie an der Aufklärung und an der Arbeit der Behörden üben: Wenn da jetzt nach der Kanzlerin der wohl zweitwichtigste Politiker der Republik dem Ausschuss Rede und Antwort stehen muss, das durchaus auch auf kritische Fragen, das spricht doch für den Aufklärungswillen der deutschen Politik. Oder sehen Sie das anders?

    Mazyek: Ich glaube nicht, dass daran gezweifelt wird, dass der Untersuchungsausschuss – übrigens nicht nur im Bund, sondern auch in Thüringen und in Sachsen – gute Arbeit leistet. Und da kommt ja gerade zum Vorschein, was viele leider vermutet haben, dass es nicht nur Pannen waren, sondern wirklich eklatante Fehler. Es sind Schredderaktionen da gewesen, es sind Akten vernichtet worden, die hätten nicht vernichtet werden müssen, der ganze Zusammenhang auch der V-Leute innerhalb des rechtsextremistischen Milieus wird aufgedeckt. Das sind ja alles ganz wichtige Tatbestände, die jetzt rausgekommen sind und die sicherlich auch dann später im Prozess gegen Zschäpe, der ja nächstes Jahr stattfinden wird, von großer Bedeutung sein wird. Und daran zweifelt niemand, dass da gute Arbeit geleistet wird.

    Nur, man hofft natürlich und wünscht sich, dass viele, die auch im Untersuchungsausschuss sprechen, doch mehr, sagen wir mal, darlegen als nur Erinnerungslücken. Und da erinnere ich mich an eine ... vor zwei Wochen ... an einen Beamten, der Tacheles gesprochen hat und ausgiebig dann Auskunft gegeben hat. Dass Papiere geschreddert werden, das ist schlimm genug, aber ich denke, das Gedächtnis soll einigermaßen funktionieren. Und da kann der eine oder andere vielleicht noch mal nachforschen in seinem Gedächtnis, was da vielleicht doch stattgefunden hat.

    Zagatta: Also, Ihre Kritik richtet sich nicht so sehr gegen die Politik, sondern eher gegen die Arbeit der Behörden. Wenn Wolfgang Schäuble jetzt sagt, er als Innenminister damals habe mit den Ermittlungspannen nichts zu tun gehabt, das habe er seinen Beamten überlassen, denn er sei ja nicht der oberste Polizist der Bundesregierung, ist daran etwas zu beanstanden oder ist das Okay?

    Mazyek: Nein, ich meine, er hat auch gestern gesagt, dass der Fokus auf den sogenannten islamistischen Terror war. Und ich glaube, da müssen wir auch selbstkritisch mal genau hinschauen. Der Rechtsextremismus in Deutschland konnte gedeihen im Schatten des 11. September. Und nun wird uns klar: Unser 9/11 ist der NSU-Terror in Deutschland gewesen. Und das ist, denke ich, eine Zäsur. Und das ist eine Zäsur sicherlich auch für Staatsschützer. Ich denke, wenn Politik und Staatsschutz das auch in Wort und Tat verinnerlichten, dann ist das Vertrauen, was übrigens nicht nur Muslime gegenüber den Behörden vermissen lassen, sondern viele, viele andere Bürger auch in unserem Land, dann kann wieder dieses Vertrauen zurückgewonnen werden. Ich glaube, das ist der ... Das ist ein wichtiger Schritt und das muss deutlich werden. Wir sagen nicht, NSU-Terror ist überall, aber wir sagen, dass es viel zu viel noch Weggucker gibt vor dem Rechtsextremismus. Und vor diesem Milieu gewinnt er eben an Einfluss. Und wir müssen uns wieder wehren, viel mehr wehren. Wir müssen deutlich machen, dass in den Behörden und in der Politik natürlich der überwiegende Teil anständige Menschen sind, das nicht wollen. Und dass der ganz kleine, geringe Teil vielleicht so denkt. Aber das muss viel deutlicher gemacht werden.

    Zagatta: Sie sagen jetzt anständige Menschen. Der Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland, der hat in dieser Woche allerdings eine – so wird er zumindest zitiert in Zeitungen – Entnazifizierungen in Behörden und Ämtern gefordert. Kann man sich so äußern?

    Mazyek: Also, ich denke, der Ausdruck ist ein bisschen übertrieben dargestellt. Sicherlich wird ... Was gemeint ist, dass es in manchen Behörden – ich denke zum Beispiel an den Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten, der ehemalige, und andere –, doch eine Gesinnung war, die doch sehr an diesen Teil unserer Geschichte erinnert. Und vor diesem Hintergrund sicherlich ist es ein etwas ... Ausdruck, den man vielleicht noch mal überdenken soll. Aber im Grunde genommen ist gemeint, dass eine bestimmte Gesinnung bei einem ganz kleinem Teil unserer Bevölkerung und damit auch in manchen Politik und Behörden vorhanden ist. Und der muss einfach aufgedeckt werden. Weil, schauen Sie: Der NSU-Terror, der ist ja nicht entstanden im luftleeren Raum, sondern den müssen wir schon in einem größeren Zusammenhang begreifen. Nämlich, dass dieses gesellschaftliche Klima, was in Deutschland da ist, zurückgreift auf Ereignisse wie Rostock, Hoyerswerda, Solingen, Mölln, rassistische Morde, die eben stattfanden ... Ich erinnere, dass in den letzten 30 Jahren über 180 Morde aufgrund rechtsextremistischer Motive stattfanden.

    Zagatta: Also, Sie hätten sich das auch vor Jahren schon vorstellen können, was uns ja so schwergefallen ist, dass eine Neonazizelle sich derart durch Deutschland mordet?

    Mazyek: Ja.

    Zagatta: Ja?

    Mazyek: Und wenn ich die Wörter beispielsweise unseres ehemaligen Bundespräsidenten anlässlich von Solingen noch mal in Erinnerung rufe, hat das auch noch mal deutlich gemacht, dass es diese Umtriebe gibt. Und die müssen wir mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Und ich glaube, das hat man einfach seinerzeit unterschätzt. Und dann insbesondere nach dem 11. September war der Fokus ganz stark auf den sogenannten islamistischen Extremismus gerichtet und leider ist in diesem Schatten, konnte dann dieser Rechtsextremismus gedeihen und sich entwickeln. Und jetzt muss ein Umdenken stattfinden. Umdenken heißt aber nicht, dass wir die Polizei als Verschiebebahnhof begreifen nach dem Motto "Jetzt schieben wir sie wieder von da nach dort", nein, wir müssen da, wo die Gefahren da sind – und die Gefahren des Rechtsextremismus in Deutschland sind virulent, sind signifikant –, dann müssen wir sie einsetzen. Das ist, glaube ich, wichtig.

    Zagatta: Herr Mazyek, jetzt beschäftigt uns seit Tagen ja der Bombenfund im Bonner Bahnhof und heute Morgen die Meldung, dass diese Bombe tatsächlich auch gezündet worden sein soll und nur nicht explodiert sei. Der Hauptverdacht, so heißt es jetzt, richtet sich gegen Salafisten oder Dschihadisten, wie der Innenminister sagt. Macht man damit jetzt vielleicht ähnliche Fehler wie in der Vergangenheit oder wie ist das für Sie, ist dieser Verdacht für Sie jetzt auch naheliegend, ist der legitim?

    Mazyek: Ich kann den Verdacht weder erhärten, noch kann ich den hier bestätigen, das ist nicht mein Job, das ist die Arbeit der Sicherheitsbehörden. Und wenn ein Verdacht vorhanden ist, in welcher Richtung auch sie jetzt ermitteln, dann müssen sie ihre guten Gründe haben und sie dann natürlich irgendwann mal auch darstellen. Ich denke, wir werden klug sein und verantwortlich genug sein, nicht denselben Fehler wieder zu machen, den wir ja schon in der Vergangenheit gemacht haben, dass wir sozusagen einen bestimmten Fokus haben, was Gefahren in Deutschland angeht, und andere Gefahren damit ausblenden. Also, ich meine vor dem Hintergrund des 11. Septembers, dass man den Rechtsextremismus eben nicht beachtet hat. Umgekehrt wird das sicherlich nicht stattfinden, weil, der Wachsamkeit der Behörden ist es ja letztendlich auch geschuldet, dass sie hier ganz schnell ermitteln, direkt ermitteln, und warum soll das jetzt sich anders darstellen, also gerade im Bereich des religiösen Extremismus?

    Zagatta: Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Herr Mazyek, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

    Mazyek: Bitte schön!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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