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Zerquälte Seele

Das Motiv, das ihn weltberühmt gemacht hat, stammt gar nicht von ihm. Der österreichische Zitherspieler Anton Karas hat es komponiert, und der unruhige, getriebene und irgendwie bedrohliche Rhythmus seiner Musik begleitet den Zuschauer durch den Film Der dritte Mann. Die Vorgeschichte des Films hat Graham Greene im Vorwort zum Buch erzählt:

Von Jochen Schimmang | 03.10.2004
    Für mich ist es nahezu unmöglich, ein Drehbuch zu schreiben, ohne den Vorwurf zunächst als Erzählung zu behandeln. Selbst ein Film erfordert mehr als bloße Handlung; seine Wirkung hängt von einem gewissen Maß an Charakterisierung, von Stimmung und Atmosphäre ab, und diese lassen sich - so scheint es mir - auf den ersten Wurf nicht in der dürren Kurzschrift eines Filmmanuskripts ausdrücken.

    Also war der dritte Mann zuerst ein schmaler Roman, bevor er ein Drehbuch wurde. Die meisten Menschen aber werden diesen Titel für immer mit dem Gesicht von Orson Welles und der Musik von Anton Karas assoziieren. Ähnlich wird mancher, der von "unserem Mann in Moskau" oder "unserem Mann in Hongkong" spricht, kaum noch wissen, dass es sich dabei um eine Paraphrase auf den wunderschönen Roman Unser Mann in Havanna handelt, von dem noch zu sprechen sein wird. Das sagt einiges über die Wirkungsgeschichte des großen Autors Graham Greene.

    Es erklärt vielleicht auch, warum er im Gegensatz zu seinem minder begabten Landsmann William Golding nie den Nobelpreis bekommen hat, für den er doch beinahe jahrzehntelang im Gespräch war. Greene war eine Spur zu populär und zu wenig transparent zugleich: ein Autor von Abenteuer-, Spionage- und Politthrillern ebenso wie von Romanen mit philosophischem Gehalt, dazu ein paar Jahre für den britischen Geheimdienst tätig, seit seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr Katholik, ein großer Reisender, der sich in fast allen Teilen der Welt auskannte. Da muß es dann ja irgendwie an der nötigen künstlerischen Strenge fehlen.

    Dem ist natürlich nicht so, aber Graham Greene hat zu diesem Bild selber beigetragen, indem er eine Reihe seiner Romane mit der Gattungsbezeichnung entertainments markiert hat. Das mag im angelsächsischen Raum allemal hingehen, ein Nobelpreiskomitee muss dabei einfach zusammenzucken. Greene war zu sehr das, was Ernst Bloch einmal durchaus nicht abwertend als "unreine Mischung" bezeichnet hat, und so blieben ihm die Weihen des Kunstadels verwehrt.

    Zu seinem 100. Geburtstag am 2. Oktober hat der Zsolnay Verlag eine Neuübersetzung des ersten Teils seiner Autobiographie vorgelegt, Eine Art Leben betitelt. Greene hat das Buch 1971 geschrieben, als er auf über 40 Jahre Arbeit als Autor zurückbleiben konnte. Das Buch reicht etwa bis zum Beginn der dreißiger Jahre, als Greene seine ersten drei Bücher veröffentlicht hatte. Es erzählt von der Kindheit als Sohn eines Schuldirektors in Berkhamstead, einem Städtchen nordwestlich von London, von seinem Hang zu schnellen Tränen und seiner Neigung zu Ohnmachten, den ersten Lektürevorlieben und dem überraschenden Faktum, dass schon der Sechzehnjährige 1920 in London eine klassische Psychoanalyse machte. Was bei Greenes Kindheits- und Jugenderzählung sich immer wieder einstellen mag, ist das Bild eines Einzelkindes, eines scheuen, zerquälten Jungen, das Greene selber zu konterkarieren sucht:

    Mochten die Eltern noch so sehr beschäftigt sein - man erlebt keine Einsamkeit in einer Familie mit sechs Kindern, einer Amme, einem Kindermädchen, einem Gärtner, einem fetten und fröhlichen Koch, einer Kompanie von Hausmädchen, einem ganzen Bataillon von Tanten und Onkeln, die alle Greene hießen, was sie noch familiärer machte...

    Es hilft nichts - Greenes Beschwörung des bunten familiären Treibens bleibt merkwürdig blass, verglichen mit seinen Geschichten vom Künstler als jungem Heranwachsender und jungem Mann. Die nämlich erzählen von der manisch-depressiven Veranlagung und seinem Hang zu kleinen und großen Fluchten. Nur drei Seiten nach den eben gehörten Sätzen heißt es etwa:

    Auf dem weiten Gelände der Stadtwiese von Berkhamstead...und in den Buchengehölzen jenseits davon konnte ich meine Einsamkeit dramatisieren...Ich wurde ein Virtouse des Abtauchens. Das Schuleschwänzen wurde zum Muster meines Lebens. Um den Leichtathletikübungen zu entgehen, erfand ich Mathematik-Nachhilfe an der Schule; ich nannte sogar den Namen des Lehrers, und seltsamerweise kam mir niemand auf die Schliche.

    Hier hat also jemand früh gelernt, wie man davonkommt, und entsprechend heißt der zweite und umfangreichere Band von Greenes Autobiographie, die wir gern auch bald in einer Neuübersetzung lesen möchten, Fluchtwege. Man darf sehr wohl auch Greenes rastlose Reisen in zumindest damals noch geradezu exotische Teile der Welt solchen Fluchtbewegungen zuordnen. Hinter diesen großen und kleinen Fluchten steht ein mächtiges Gefühl, das ihn nach seinen eigenen Worten sein Leben lang beherrscht hat: die Langeweile. Langeweile nicht als eine vorübergehende Laune und Lustlosigkeit, sondern als eine beinahe metaphysische Macht, ein heftig empfundener Mangel an Sein. Der Kampf gegen diese Macht treibt ihn beispielsweise dazu, 1924 für die Deutschen als eine Art Spion durchs besetzte Rheinland zu reisen.

    In meinem Alter damals war ich bereit, mich für jede Sache zu engagieren, die mich mit Spannung und einem gewissen Risiko belohnte. Ich glaube auch, dass jeder Romancier etwas von einem Spion besitzen muß. Er beobachtet, er belauscht, sucht Motive und analysiert Charaktere und ist skrupellos in seinem Bestreben, der Literatur zu dienen.

    Das amorphe Chaos der Langeweile, der Mangel an Sein dürfte es auch gewesen sein, was den jungen Graham Greene, inzwischen Journalist in Nottingham, 1926 zum Katholizismus konvertieren lässt. Dass seine künftige Frau gläubige Katholikin war, hat sicher eine Rolle gespielt. Man kann sich aber vorstellen, dass der immergleiche Ritus der katholischen Messe, die unwandelbare Strenge der Form und das Gefühl, Teil einer großen und weltweiten Institution zu sein, ihn fasziniert haben. Trotz der religiösen Motive und der nicht unerheblichen Zahl von Priestern, die später in seinen Romanen auftauchen, war Greene aber keineswegs ein katholischer Schriftsteller, sondern ein Schriftsteller, der katholisch war. Dazu später.

    Nur kurze Zeit nach seiner Konversion trat der junge Journalist in eine zweite Institution ein, nämlich in die Redaktion der Times in London. Dort hätte er bleiben können, denn zumindest damals galt die unausgesprochene Regel, dass die Times einen einmal eingestellten Redakteur niemals entlassen würde. Die neu gewonnene Ordnung lag aber im Widerstreit mit dem Wunsch, Schriftsteller zu werden. Eine Art Leben endet etwa mit dem Sprung in die freie Existenz und der Reflexion des Werts seiner ersten Bücher. Über das erste heißt es:

    "Zwiespalt der Seele" ist ein sehr junges und sentimentales Buch. Es sagt mir heute nichts mehr, und ich kann mir seinen Erfolg nicht erklären. Es ist wie das Werk eines Fremden und von einer Art, die ich nie gemocht habe.

    Das ist ein hartes, aber gerechtes Urteil, wie man leicht feststellen kann, wenn man dieses und die anderen frühen Bücher Graham Greenes noch einmal liest, mit ihrer unklaren Handlungsführung, ihren blassen inneren Konflikten und ihrer teilweise verschmockten Sprache. Wäre es bei ihnen geblieben, sein Name wäre längst und zu Recht vergessen. Da dieser ungemein produktive Autor aber weiter geschrieben hat, gibt es heute eine Menge guter Gründe, Graham Greene zu lesen.

    Was die ungebrochene Modernität seiner Bücher ausmacht, ist zunächst einmal ihre unübersehbare Nähe zur Farce. Das betrifft nicht nur einen offenkundig als solche angelegten Roman wie Unser Mann in Havanna, es betrifft auch die Romane, die mit einer beinahe metaphysischen Problematik daherkommen. Greenes Romane kennen eigentlich keine Helden im strengen Sinn des Worts. Sie erzählen von Menschen, die sich abstrampeln und ihr eigenes Leben nicht verstehen.

    Das liegt nicht etwa daran, dass Greene die Menschen nicht gemocht hätte. John le Carré hat ihm im Gegenteil "ein universelles Mitgefühl" bescheinigt. Es liegt vielmehr daran, dass dieser Autor über die zerbrechliche Einrichtung der Welt geschrieben hat, in der das Tragische und das Komische so eng beieinander liegen, dass sie am Ende nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Wenn Greene ein katholischer Schriftsteller war, dann ganz gewiss nicht im Sinne eines François Mauriac oder eines Paul Claudel. Allerhöchstens im Sinne eines Georges Bernanos. Sein Universum ist ähnlich ausweg- und hoffnungslos wie das des Franzosen, wenn auch manches versöhnlicher ausfällt.

    Er ist daher auch ein Autor, den man nicht für eine irgendeine hehre Sache reklamieren könnte, auch nicht für die des Katholizismus. Er propagiert weder den Befreiungskampf der Dritten Welt, in der viele seiner Bücher spielen, noch den Kreuzzug für die westlichen Werte. Er erklärt uns nie, wer die Bösen und wer die Guten sind; er zeigt uns höchstens, wer die Schlauen und wer die Dummen sind. Mag sein, dass auch diese Unmöglichkeit, Graham Greene für ein Ideal und für irgendwelche Kreuzzüge einzuspannen, das Nobelpreiskomitee davon abgehalten hat, ihm den Preis zu geben. In den Begründungen für den Preis wird schließlich gern in prägnanten Formulierungen gesagt, was der ausgezeichnete Autor für die Welt getan hat.

    Was Greene für die Welt getan hat, muss hier nicht entschieden werden. Für die Literatur hat er sehr viel getan. Nach seinen schwachen Anfängen hat er das Handwerk des Schreibens perfekt erlernt. Er war ein wunderbarer Konstrukteur, getreu der immer wieder vergessenen Grundwahrheit, dass ein Roman eine Maschine ist, die sorgfältig gebaut werden muss, damit sie funktioniert. Mit Inspiration hat das sehr wenig zu tun, mit irgendeiner Botschaft schon gar nicht, mit sauberem Handwerk fast alles. Schon seine ersten Sätze zeugen davon. Die heißen etwa:
    Wilson saß auf dem Balkon des Grand Hotel und presste seine kahlen, rosigen Knie fest gegen das eiserne Gitter.

    Oder:

    Mr. Tench ging aus, um zu sehen, ob seine Ätherflasche angekommen war; er trat hinaus in die glühende mexikanische Sonne und in den ausgebleichten Staub.

    Oder:

    Nach dem Abendessen saß ich in meinem Zimmer über der Rue Catinat und wartete auf Pyle.

    Wir wissen noch nicht, wer Wilson, wer Mr.Tench oder Pyle ist, wenn wir diese Sätze gelesen haben, aber wir haben sofort volles Vertrauen darin, dass wir sie schon kennen lernen werden. Und wir haben auch Interesse daran. Greene war ein Autor, der sehr wohl der Ansicht war, dass man auch heute noch Sätze schreiben könne wie "Die Marquise verließ das Haus um fünf Uhr nachmittags" und dass diese Sätze funktionieren. Er machte sich wenig Gedanken darüber, wie man etwas und ob man überhaupt noch etwas erzählen könne.

    Im Dritten Mann gibt es die bekannte Szene, in der der Westernautor Rollo Martins - der im Film dann Holly heißen wird - im durch die vier Mächte besetzten Wien der Nachkriegszeit aus Versehen als Stargast in eine literarische Gesellschaft gerät und nach seiner Ansicht zu James Joyce gefragt wird. "Ich habe noch nie von ihm gehört", ist seine Antwort. Man darf diese Spitze selbstverständlich nicht eins zu eins lesen. Greene schätzte Joyce durchaus und erzählt in seiner Autobiographie, wie er bei seinem ersten Parisaufenthalt die Erstausgabe des "Ulysses" in Sylvia Beachs berühmter Buchhandlung kauft. Der kleine Schlenker soll lediglich sagen, dass er eine andere Poetik verfolgte.

    Zu dieser Poetik gehört die präzise Zeichnung von Schauplätzen, seien diese nun in Vietnam, in der argentinischen Provinz, in Havanna, in Mexiko oder in Afrika angesiedelt. Dabei ist das Wort Zeichnung hier wörtlich zu nehmen. Greene ist kein opulenter Maler; wo er zu malen beginnt, wird er im Gegenteil schwächer und zäh zu lesen. Ihm genügt es aber meistens, mit ein paar präzisen Strichen eine Welt zu skizzieren und mit ein paar Sätzen ihre Stimmung aufzubauen: Hitze, Verfall, Traurigkeit, Dumpfheit, Dekadenz - was auch immer. Man hat ihm teilweise seine angeblich exotischen Schauplätze vorgeworfen. Exotisch sind sie jedoch nur für den, der sie nicht kennt und der nicht zu lesen versteht.

    Wer aber genau liest, möchte nach der Lektüre sofort hinfahren. Nicht etwa, weil das alles so farbig und prächtig geschildert wird - das wird es gerade nicht. Auch nicht, weil dort die besseren Menschen wohnen - das schon gar nicht. Greene ergreift nicht flammend Partei für die Unterdrückten und Entrechteten, auch wenn die Nachwortschreiber der DDR-Ausgaben seiner Bücher ihn gern so gelesen haben. Hinfahren möchten wir heute, weil die Wahrhaftigkeit dieser Zeichnungen zu spüren ist und wir sie als wohltuend empfinden nach so vielen Jahrzehnten Ethnokitsch, den wir über uns ergehen lassen mussten.

    Die Exotik liegt manchmal übrigens eher in überraschenden Schwenks nach Europa. In Unser Mann in Havanna gibt es ab und zu ein "Zwischenspiel in London", in die Geheimdienstzentrale, von der aus der Agent in Havanna geführt wird. Die Beschreibung des Interieurs und der Umgangsformen dort gewinnt im Kontrast zu den Schilderungen des Lebens im Kuba von Battista etwas sehr Skurriles, Befremdendes - etwas Exotisches eben. Diese Geheimdienstfarce ist eines von Greenes besten Büchern, und er hat ihm mit seiner Klassifizierung als entertainment nicht unbedingt einen Gefallen getan. Es ist die Geschichte von Mr. Wormold, Generalvertreter einer britischen Staubsaugerfirma in Havanna, der sich vom britischen Geheimdienst anwerben läßt, hier und da die Augen und die Ohren offen zu halten und seinerseits Agenten anzuwerben. Wormold lässt sich darauf ein, weil seine 17jährige Tochter zu kostspielig wird, kassiert fleißig Spesen und schreibt Berichte.

    Die Krönung ist die Skizze einer angeblich im Bau befindlichen riesigen Militäranlage in den Bergen, die nichts anderes ist als eine Zeichnung eines riesenhaft vergrößerten Staubsaugers. So weit, so komisch; aus dem Spiel wird aber Ernst, und es gibt einige Tote. Greene brauchte nicht viel Phantasie, um diese Story zu entwerfen. Er war im Zweiten Weltkrieg selber in Westafrika für den britischen Geheimdienst tätig und kannte den Leerlauf und den Hang zur Fiktion in diesem Metier. Der Geheimdienstler ist gleichsam der Romancier par excellence. Dass es nicht bei der Komödie bleibt, macht die Qualität dieses Buches aus, das eines der Grundthemen von Greenes Schreiben paraphrasiert. Es ist eine wunderbare Parabel über Schein und Sein und über die enge Nachbarschaft des Erhabenen und des Lächerlichen.

    Ähnlich nimmt der 1973 erschienene Roman Der Honorarkonsul , in dem in Argentinien aus Versehen nicht der amerikanische Botschafter, sondern ein versoffener britischer Honorarkonsul von Guerillas entführt wird, die Farcen vorweg, die später bei Geiselnahmen in aller Welt sich ereigneten. Das ist nicht komisch, obwohl es dem Roman an komischen Stellen nicht mangelt, dafür aber um so abgründiger. Es ist vermutlich Greenes Buch mit den erbärmlichsten Gestalten, und seine Größe besteht darin, dass der Autor tatsächlich Erbarmen mit ihnen hat.

    Graham Greenes vollkommenstes Buch aber, das erst vor zwei Jahren noch einmal verfilmt worden ist, heißt Der stille Amerikaner.
    Nach dem Abendessen saß ich in meinem Zimmer über der Rue Catinat und wartete auf Pyle. "Spätestens um zehn bin ich bei Ihnen", hatte er gesagt, und als es Mitternacht geschlagen hatte, konnte ich nicht mehr stillsitzen und ging auf die Straße hinab. Auf dem Treppenabsatz hockte eine Schar alter Weiber in schwarzen Hosen; es war Februar, und da fanden sie es im Bett wohl zu heiß. Der Lenker einer Fahrradrikscha zuckelte gemächlich vorüber; er fuhr hinunter zum Flußufer. Ich konnte den Schein der Lampen sehen, wo die neuen amerikanischen Flugzeuge ausgeladen wurden. In der ganzen langen Straße war nirgends eine Spur von Pyle.

    Der da erzählt, ist ein englischer Journalist namens Fowler, der für eine britische Zeitung als Korrespondent arbeitet, im übrigen von seiner Frau getrennt lebt und ein Verhältnis mit einer jungen Vietnamesin namens Phuong hat. Die lange Straße liegt in Saigon, und der Fluss ist natürlich der Mekong. Pyle wird an diesem Abend nicht mehr kommen und auch an den anderen nicht, weil er tot ist. Seine Geschichte wird retrospektiv erzählt.

    Wir befinden uns im französischen Indochina. Es ist nicht mehr lange bis zur Schlacht von Dien Bien Phu, die faktisch das Ende der französischen Kolonialherrschaft bedeutete. Pyle ist angeblich Angehöriger der amerikanischen Handelsmission in Saigon, in Wahrheit aber in einer ganz anderen Mission dort. Er ist wesentlich jünger als Fowler und steckt voller ehrlicher Überzeugungen, wie Indochina und anderen Ländern der Dritten Welt zu helfen sei. Er hat alle Bücher eines amerikanischen Politautors gelesen, die davon handeln, wie Freiheit und Demokratie weltweit zu verbreiten seien. In gewisser Hinsicht ist er ein Verwandter von Adams aus Patricia Highsmiths Roman Das Zittern des Fälschers, den der Protagonist Ingham nur OWL nennt: Our Way of Life. Nur ist Pyle nicht ganz so harmlos.

    Zwischen ihm und Fowler entwickelt sich eine merkwürdige, von Antipathie und Sympathie gleichermaßen getragene Beziehung, in der es nicht zuletzt um die Frau geht. Bevor Pyle selber ermordet wird, kommen durch seine aufrichtigen Bemühungen mehr als 50 völlig unschuldige Menschen zu Tode. Pyle ist keineswegs der Böse, oder wenn er es ist, dann nur auf eine andere Art und Weise, als es alle anderen in diesem Buch auch sind, ausgenommen das Mädchen Phuong.

    Wie die meisten anderen Romane Greenes ist auch dieser ein Kammerspiel, in dem zugleich die Welt abgebildet wird. Nirgends aber ist ihm das so perfekt gelungen wie in diesem Buch. Es ist unendlich traurig, und weil die Konstruktion bis ins kleinste Detail stimmt und das Buch wunderbar musikalisch ist, ist es zugleich sehr schön. Es ist trostlos und gewährt zugleich Trost, ohne dass dieser aus irgendeiner billigen Trickkiste geholt wird. In diesem Roman ist Greene Joseph Conrad am nächsten, mit dem er zuweilen verglichen worden ist, wobei er zumeist als der Schwächere abgekanzelt wurde, weil Conrad für die Kritik dem Kunstanspruch mehr genügte. Aber auch Graham Greene hat große Bücher aus dem Herzen der Finsternis geschrieben. Er war ein Autor, der erzählt hat, wie es zugeht auf der Welt. Das ist der wichtigste Grund, ihn zu lesen, denn von solchen Autoren gibt es nicht allzu viele.

    Graham Greene
    Eine Art Leben
    Paul Zsolnay Verlag, 224 S., EUR 19,90