Freitag, 19. April 2024

Archiv

Zerstörung als Geschäftsmodell
Die Autocrasher von Messring

Neuwagen mit Vollgas gegen die Wand fahren gehört im bayerischen Krailling zum Alltag. Die Firma Messring hat Carcrashing als Geschäftsmodell entwickelt, um damit die passive Sicherheit bei Autounfällen zu erhöhen. Mittlerweile ist sie mit ihren Testanlagen die weltweite Nummer eins.

Von Klaus Lockschen | 27.01.2017
    Zwei Frauen stehen diskutierend vor ihren beschädigten Autos.
    Erst nach zahlreichen Crashtests dürfen Neuwagen zugelassen werden. (imago/Jochen Tack)
    "Manchmal sieht man auf Anlagen Fahrzeuge rumstehen, die auch entsprechend hochpreisig sind, was auch nur ein paar Mal auf der Welt rumfährt. Wo man sich vorstellt: Na, das wird jetzt gleich wirklich kaputt gemacht. Ein bisschen tut´s dann schon weh."
    Zwei Seelen wohnen in seiner Brust, aber als Vertriebschef der bayerischen Firma Messring setzt Wolfgang Rohleder strikt auf Zerstören als Geschäftsmodell. In Krailling ansässig, nahe dem Starnberger See und damit weit ab vom Schuss, ist das Unternehmen in der weltweiten Autobranche dennoch bekannt wie ein bunter Hund. Messring, 1968 vom Ingenieur Ulrich Führer gegründet, ist Weltmarktführer bei Crashanlagen.
    "Der Firmengründer von Messring vor seiner Zeit war für BMW tätig, hat dort den allerersten Versuch, den BMW in Sachen Crash durchgeführt hat, mit nem Fallturm durchgeführt. Und dieser Fallturm war letztlich ein Kran. Da wurde ein Fahrzeug auf zehn, zwölf Meter gehoben und dann einfach fallengelassen. Und es war letztlich mit der ausschlaggebende Punkt, wo BMW gesagt hat: So kann es eigentlich nicht sein, es ist ein Verfahren, was überhaupt nicht reproduzierbar und nachvollziehbar ist."
    Passive Sicherheit optimieren
    Ein Mann sitzt bei untergehender Sonne auf dem Weg nach Hause am Steuer seines Autos.
    Einmal kurz geblendet und schon ist der Totalschaden da. (imago/mika)
    Das war Ende der 1960er-Jahre. Ulrich Führer betrieb daraufhin Unfallforschung und machte die passive Sicherheit zu seinem Thema. Wenig später entwickelte er für BMW eine erste Anlage.
    Seither wurden mit immer besseren Analysen typischer Unfallmuster in zahlreichen qualitativen Sprüngen das Testverfahren und letztlich die passive Sicherheit von Autos optimiert. Beispielsweise mit stabilen Fahrgastzellen, Knautschzonen, Gurten, Airbags.
    Seit 2000 befindet sich die Firma mit ihren rund 100 Beschäftigten in einem länglichen Gebäude in grauer Betonarchitektur im Industriegebiet von Krailling. Der Grundriss ist der eigenen Testanlage geschuldet. Die misst 75 Meter, kommt aber nur selten zum Zuge, weil sie mittlerweile für einige Unfalltypen zu klein ist, sagt der schlanke Mittfünfziger, Dresscode: Jeans und Shirt.
    Mittig in der Anlage steht gerade für einen US-Kunden versandbereit eine fahrbare blutrote Barriere für Seitenkollisionen. Sie erinnert an ein Mondmobil. Rohleder erklärt:
    "Man macht Crashversuche, um Messdaten von einem Fahrzeug zu bekommen. Messdaten bedeutet Daten von Sensoren, Sensoren, die jetzt zum Beispiel im Fahrzeug verbaut sind, um direkt an den Fahrzeugstrukturen zu messen, oder Sensoren, die jetzt im Dummy verbaut sind, um Rückschlüsse auf Lasten, die jetzt auf den menschlichen Körper wirken würden im Unfall, zu messen. Und Videodaten. Das heißt, also Hochgeschwindigkeitsaufnahmen von dem Objekt: Wie verhält es sich denn wirklich mechanisch?
    Crashanlagen sind ein kompliziertes Zusammenspiel von zahlreichen Systemen. Wie das im Boden fast unsichtbar integrierte, gerade mal fünf Zentimeter schmale Schienensystem, Micro-Track genannt. 300 Meter lang können diese Bahnen sein, auf denen die Fahrzeuge per Seilzug millimeter- und tempogenau geführt werden. Angetrieben von einem gewaltigen Motor, der das Ganze auf Geschwindigkeit bringt. Und viel Steuerungstechnik, Barrieren, Schlitten. Hinzu kommen Kameras mit 1.000 Bildern pro Sekunde, LED-Lichtanlagen mit 100.000 Lux, hell wie im Operationssaal, Messtechnik für Hunderte Sensoren und miniaturisierte Datenrekorder. Und last not least Dummys, betont Rohleder:
    "Also es gibt einen Dummy beispielsweise, also WorldSID und Thor sind so ein paar Schlagworte, die können mit bis zu circa 200 Sensoren ausgestattet werden."
    Eine Anlage aus einem Guss
    Bis auf Dummy-Körper und Kameras stammt alles aus eigener Entwicklung. Eine Anlage aus einem Guss, ist Rohleder überzeugt, hat den Vorteil, dass die Komponenten im System besser harmonieren, zumal die Branche keine Standardisierungen kennt. Auf einen fehlerfreien Versuchsablauf komme es schließlich an, sonst fahre man nicht nur teure Autos, sondern auch tagelange Crash-Vorbereitungen unnütz gegen die Wand - und damit ebenfalls das eigene Renommee.
    "Ein Crashversuch spielt sich in 150 Millisekunden ab. Das heißt also, die Systeme müssen wirklich auf den Punkt genau funktionieren."
    Gut 110 Anlagen hat Messring bereits ausgeliefert – zehnmal mehr als die Nummer zwei der Branche. Zum Stückpreis zwischen einer und zehn Millionen Euro. Bis Anfang der 90er-Jahre waren es meist europäische Kunden, dann kam der amerikanische Markt hinzu, und seit der Jahrtausendwende gibt auch Asien kräftig Gas. Allein in China wird mit 14 Anlagen aus Bayern gecrasht. Lediglich Afrika ist noch Terra incognita.
    Vielschichtiger als jedes Rechenmodell
    Besorgt über immer bessere Computersimulationen ist der Verkaufschef nicht. Die Realität sei vielschichtiger als jedes Rechenmodell, und gesetzliche Vorgaben für die Typenzulassung machten den Realtest unumgänglich, ist Rohleder überzeuget:
    "Wir sind, wenn ich mir die letzten 15, 20 Jahre anschaue, weit, weit davon entfernt, nicht, weil die Rechner oder die Simulationstechnik schlecht ist oder nicht sich so entwickelt hat, sondern weil die Vielzahl der Fahrzeuge nach oben geschnellt ist.
    Wenn Sie also einen renommierten Hersteller nehmen mit seinen vielen, vielen Plattformen und Derivaten, hat die Anzahl der Versuche, die gemacht werden müssen, weil es einfach gesetzliche und Verbrauchervorschriften gibt, zugenommen."
    Auch wenn jeder Schlag also ein wenig schmerzt, Messring beschert er eine solide Auftragslage. Binnen einer Dekade ist der Jahresumsatz steil auf fast das Vierfache auf 20 Millionen Euro gestiegen.