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Zirkus Sardam

Russen nennen ihr Russland gern "strana cudes" - "Land der Wunder". So ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Die russische Literatur, zum Beispiel, wartet immer wieder mit Wundern auf, mit Schätzen, die unbemerkt irgendwo schlummern und plötzlich zu Tage gefördert werden. Ein solches Wunder hat sich nun auch mit einem Werk des Petersburger Dichters Daniil Charms ereignet: dem Theaterstück "Zirkus Sardam", das die Herausgeber seines Gesamtwerks in einem Band für Kinderliteratur versenkt hatten. Dort ruhte es unbeachtet, bis der Übersetzer Peter Urban es entdeckte und ins Deutsche übersetzte - "ein ganz gewöhnliches Wunder", um eine Lieblingsformulierung von Daniil Charms zu benutzen.

Brigitte van Kann | 03.04.2003
    Zirkus Sardam ist jetzt als 100. Heft der Friedenauer Presse-Drucke erschienen, von Horst Hussel zur Feier des Jubiläums mit anmutigen Illustrationen in Farbe versehen. Mit seinem blau-rot zweigeteilten Rock erinnert das Figürchen auf dem Umschlag ganz entfernt an Male-vics suprematistische Bauern und Sportler. Hat der kluge Illustrator gewusst, dass Daniil Charms seinen Nachruf auf Malevic mit Daniil Charms-Sardam unterzeichnete?

    1935, in Malevics Todesjahr, war in Leningrad, wie St. Petersburg damals hieß, ein Marionettentheater gegründet worden. Für diese Bühne, die etwas über ein Jahr bestand, verfasste Charms sein Zirkusstück, das eine Menge Vergnügliches für kleine Zuschauer bietet: Action, wie man heute sagen würde, wunderbare Figuren, running gags und Missgeschicke, überhaupt eine geradezu anarchische Komik. Man kann den "Zirkus Sardam" deutschsprachigen Bühnen und Zirkuszelten nur ans Herz legen; gut in Szene gesetzt, wird er den öden Märchenbearbeitungen den Rang ablaufen, mit denen man Jung und Alt so gern die Freude am Theater austreibt.

    Um zu überleben hatte Daniil Charms, einer der verfemten letzten Avantgardisten der russischen Avantgarde, eine ganze Reihe von Werken für Kinder verfasst. Unter der kinderkompatiblen Oberfläche seines Zirkusstücks brachte der Dichter jedoch den ein oder anderen Sprengsatz an - die Genossen merkten es und der Zirkus Sardam überlebte die Premiere nicht.

    Was allein für eine gewagte Idee - ausgerechnet ein Zirkusstück, das Tempo und Artistik erfordert, für tote Gliederpuppen zu schreiben! Besser und subversiver konnte man das Wesen der stalinistischen Herrschaft gar nicht erfassen. Schon die Ankündigung des Zirkusdirektors klingt wie eine Drohung: "Die Zirkusvorstellung. Der erste Teil auf der Erde, der zweite unter Wasser, bis wir euch wieder nach Hause lassen." Die Handlung, die zu diesem Zeitpunkt schon in vollem Gange ist, wird an dieser Stelle nicht verraten. Nur soviel sei gesagt: Charms Regieanweisungen sind so herrlich, dass man sie mit sprechen lassen müsste: "Schweigend schwimmt der Haifisch vorüber." Es wäre schade, wenn solche Sätze untergingen.

    Eine Freude für Kinder und für Kenner der russischen Literatur gleichmaßen sind all die "Wörter ohne Sinn", die der Dichter seinen Figuren in den Mund legt: Der philippinische Jongleur etwa mit seinem anderthalb Zeilen langen "philippinischen" Namen, der indische Fakir mit seinen Zauberformeln... Reinster, schönster Blödsinn - und eine lautpoetische Fingerübung, eine Verneigung vor den russischen Futuristen und ihrer Kunstsprache zwischen Magie und Mathematik. Wer es weiß, hat seine Freude daran; wer es nicht weiß, auch.

    Neben dem "Zirkus Sardam" wartet die Friedenauer Presse mit einem weiterem Band Charms in der Übersetzung von Peter Urban auf: er heißt in guter Tradition "Fälle" und versammelt Prosa, Szenen und Dialoge des Autors, seine wichtigsten Texte, die nun nach längerer Durststrecke wieder in deutscher Sprache zu haben sind, angereichert mit etlichen Neuentdeckungen. Die inzwischen nicht mehr kleine Charmsgemeinde wird es zu danken wissen: Endlich kann man wieder Mitglieder werben und guten Gewissens in die Buchhandlung schicken!

    In seiner Nachbemerkung überlässt der Übersetzer dem Leser die Antwort auf die Frage, ob Daniil Charms nur als Klassiker des schwarzen Humors anzusehen sei oder ob er nicht zugleich auch "einer der wahrsten Realisten seiner Zeit" gewesen ist. Die Frage zielt ins Herz dieses Dichters des Absurden, und wer sich auf sie einlässt, liest ihn mit neuem Gewinn.

    "Wir stehen immer beiseite, immer auf der anderen Seite des Fensters. Wir wollen uns nicht unter die anderen mischen. Uns gefällt unsere Position - auf der anderen Seite des Fensters -sehr gut." So beschrieb Daniil Charms 1931 seinen Standpunkt als Beobachter, nicht als Akteur seiner an Umwälzungen und Grausamkeiten reichen Epoche.

    Doch nur ganz selten ist die sowjetische Wirklichkeit bei Charms so klar erkennbar wie in dieser fiktiven Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1931: "Die Entgegenkommenden rempeln mich an. Sie sind alle erst vor kurzem von den Dörfern gekommen und wissen noch nicht, wie man auf der Straße geht." Durch die Zwangskollektivierung hatte eine Landflucht unvorstellbaren Ausmaßes eingesetzt, zu Millionen strömten russische Bauern in die Städte, gewaltsam Entwurzelte, Arbeitssklaven für Stalins Aufbau der Schwerindustrie. In der kleinen Straßenszene mischen sich Mitleid und Bedauern über den Verlust an urbaner Lebensqualität.

    Dingfest machen, benennen kann man den "Realitätsgehalt" seiner Arbeiten oft nur schwer. Daniil Charms hat keine Satiren geschrieben, die leicht als Kritik herrschender Verhältnisse zu entschlüsseln wären. Das wäre zu gefährlich gewesen und hätte dem Wesen des Dichters und seinen ästhetischen Überzeugungen nicht entsprochen.

    Vielleicht könnte man Daniil Charms einen Realisten nennen, dessen schwarze, absurde Miniaturen die Wirklichkeit der stalinistischen Epoche nicht "realistisch" abbilden, sondern eher deren Filtrat, ihr Niederschlag, ihre Stimmung sind. Charms Werk ist von Wirklichkeit durchdrungen, gesättigt; es riecht geradezu nach den Schrecken der Zeit: das unheimliche Verschwinden von Menschen, die allgegenwärtige Gewalt und Lüge, das Gefangensein, die lähmende Angst. Trug nicht der sowjetische Alltag auch Züge des Absurden? Waren nicht die Schauprozesse Wirklichkeit gewordenes absurdes Theater? Mit dem Unterschied, dass am Schluss echtes Menschenblut floss.

    Über Daniil Charms als "wahren Realisten" wird man weiter nachdenken müssen. Es war übrigens der Dichter selbst, der seine Leser auf diese Fährte geführt hat: als Mitglied und treibende Kraft einer Künstlergruppe namens "Vereinigung der realen Kunst".