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"Zivilcourage"

"Man kann Statistik nicht komponieren", notierte 1961 Erich Kästner im Vorwort zu seinen Aufzeichnungen aus den letzten Kriegstagen. Die Gräuel der Nazizeit sind Zahl und Schicksal, doch als nackte Zahl berühren sie uns weniger denn als biographische Skizze. Das machte den Erfolg des Anne-Frank-Tagebuchs aus; das erklärte die Erschütterungen, die von Filmen wie "Holocaust" oder "Schindlers Liste" ausgingen. Wer Zahlen auf den konkreten, plastischen Einzelfall herunterrechnet, erreicht die Herzen der Menschen. Freilich: ein Problem für die Geschichtswissenschaft. Die Gleichung funktioniert nämlich auch umgekehrt. Jeder Einzelfall – so suggeriert es die Rezeptionsgeschichte des Dritten Reichs – steht für Tausende, Hunderttausende, Millionen. Wenn man also ein Opfer heraushebt, tritt beim Leser fast augenblicklich die Vermutung ein, es repräsentiere eine ganze Gruppe. Das war oft so, aber nicht immer. Nicht dort, wo die Opfer aus der Täterschicht kamen, sich von ihr losmachten und im so genannten "Rettungswiderstand" gegen den Strom schwammen.

Von Florian Felix Weyh | 11.03.2004
    Wie also über jene Handvoll Menschen berichten, die in den Gliederungen des NS-Staates nicht im Sinne ihrer Vorgesetzten funktionierten, die Juden, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene vor dem sicheren Tod bewahrten? Auch sechzig Jahre nach Kriegsende erschwert das Repräsentationsdilemma die unbefangene Annäherung an die historische Wahrheit. Tatsache ist: Die Zahl der Beherzten, die als Funktionsträger innerhalb von Wehrmacht und NS-Bürokratie human agierten, blieb verschwindend klein. Von unter hundert Fällen weiß die Wissenschaft. Jeder, den man aus dieser Menge als "Gerechten unter den Völkern" heraushebt (wie es die jüdische Gedenkstätte Yad Vashem mit einigen der im Buch Geschilderten tat), schönt in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild des Rettungswiderstands. Statistisch gesehen, war er vollkommen bedeutungslos. Statistisch – aber nicht mental!

    Denn wenn man aus der Geschichte lernen will, muss man nicht nur gesellschaftliche Strukturen begreifen, sondern auch, was Menschen immun macht gegen ihre gewaltsame Veränderung. In diesem Sinne ist der von Wolfram Wette herausgegebene Aufsatzband "Zivilcourage" ein wichtiges Dokument, auch wenn er nach distinguierten Lesern verlangt. Lesern, die ihre eigene Erleichterung über "gute" oder wenigstens im Sinne eines nicht durch Ideologie deformierten Unrechtsbewusstseins "anständige" Deutsche immer wieder an der marginalen Zahl dieser Menschen relativieren. Der Rettungswiderstand zeigt nur, dass Zivilcourage prinzipiell möglich gewesen ist – und wie selten sie tatsächlich zu konkreten Taten führte.

    Trotz kleiner Grundgesamtheit lässt sich ein Muster erkennen. Erstens blieben alle Couragierten von der grausamen Statistik des Vernichtungskriegs unbeeindruckt, wonach Menschenleben nur noch in Dutzenden zählten. Selbst im Falle des Juristen Gerhard Wanders, der im besetzten Amsterdam Tausende von Juden mit juristisch-jesuitischer Finesse "arisierte" und damit vor der Deportation bewahrte, stellte keine Gruppenbefreiung aus, sondern entschied im Einzelfall. "Derjenige, der alle Juden retten wollte, rettete niemanden", heißt es zutreffend im Buch, denn nur Einzelfälle waren unauffällig genug, im mörderischen System nicht sofort als Schwachstelle aufzufallen. An diesem Umstand scheiterten Bemühungen wie die des Majors Karl Plagge in Wilna, der zwar einige Zeit lang jüdischen Zwangsarbeiter vor den Vernichtungslagern bewahren konnte, weil er sie in seinem "Heereskraftfahrpark" als unersetzliche Fachleute deklarierte, doch die Schutzmaßnahme war als solche erkennbar und damit der Willkür der Nazi-Oberen ausgeliefert.

    Das gegenläufige Beispiel – der absolute geheime Rettungswiderstand – hatte mit anderen Problemen zu kämpfen. Auch hier fällt eine Zahlenrelation auf. Um das Leben eines jüdischen Mitarbeiters zu retten, musste der Wasserbauingenieur Günter Krüll fünf Mithelfer einweihen, was unter damaligen Verhältnissen russischem Roulette gleichkam, denn dass sich unter Fünfen nicht ein NS-Spitzel befand, mutet heute wie ein Wunder an. Zumindest in der Funktionärsebene des NS-Staates waren Menschen mit unangefochtenen moralischen Maßstäben eine Rarität. Betrachtet man die Biographien dieser Ausnahmeerscheinungen, entdeckt man zum größten Teil starke Verwurzelungen in einem werttragenden und wertstabilen Milieu. Das konnten kirchlich-religiöse, durchaus aber auch adelig-ritterliche Wurzeln sein. Ein kleinerer Teil der übers Naziunrecht Empörten war nicht derartig vorgeprägt, sondern ließ sich spontan vom Leid fremder Menschen ergreifen – mitfühlende, von Empathie durchflossene Naturen. Ihre Seltenheit verbietet optimistische Schlüsse. Offensichtlich ist es einfacher, unser anthropologisches Erbe an Empathie und Mitgefühl außer Kraft zu setzen, als milieubedingte und anerzogene Werte auszuhebeln. Man kann sich, anders gesprochen, aufs biologische Erbe des Menschen weniger gut verlassen als auf soziale Fundamente, die in frühen Kindertagen gelegt werden. Wenn dem wirklich so ist, muss die Lektüre ein Unbehagen hinterlassen, denn werttragende und wertstabile Milieus existieren in der säkularisierten Bundesrepublik so gut wie überhaupt nicht mehr.